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Seite:Die Gartenlaube (1897) 391.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

man so sieht, was die Glaustädter Geschlechterfamilien bevorzugen … Der Bürgermeister ist eine große Ausnahme. Der kümmert sich ja in der That manchmal mehr um die Kunst als um sein Amt. Doch dieser eine Herr Kunhardt macht uns die Suppe nicht fett.

Noch ein paar Schritte, und der merkwürdige Mensch bog mit höflichem Gruß in die Kirchgasse. Doktor Ambrosius schaute ihm kopfschüttelnd, aber nicht unfreundlich nach. Der Mann dünkte ihm der verkörperte Widerspruch. Unzufrieden mit sich und der Menschheit, wortkarg und mürrisch, aber bei alledem selbstlos, warmherzig und begeisterungsfähig im rechten Augenblick, von starker Beredsamkeit; jetzt ein weltflüchtiger Schwärmer und jetzt ein Mann der verblüffenden Klugheit und Energie – das war Kunz Noll, der Reißer und Maler zu Glaustädt.

Doktor Ambrosius beschleunigte nun seine Schritte. Nach fünf Minuten stand er vor dem windschiefen Häuschen des Malefikantenrichters. Trotz der weißglühenden Sonne des Junitages war’s in dem engen Hausflur beinahe finster. Die Holztreppe mit dem unfesten Geländer krachte und wackelte, wie sich Ambrosius mühsam hinauftastete. Dann, mit einem Male, ward es da droben hell. Eine vierschrötige Wasch- und Putzfrau, die sich die Hände an ihrer groben Leinenschürze abtrocknete, hatte die Kammerthür aufgerissen. Gleich danach ging eine zweite Thür auf. Bertha erschien, die dreißigjährige Nichte Xylanders, und hieß den Arzt mit etwas hochtöniger Stimme willkommen.

Doktor Ambrosius trat in die sauber gehaltene, aber unendlich freudlose, nüchterne Wohnstube. Er sah sich einem Geschöpf gegenüber, das zu dieser Wohnstube paßte. Hager und schmalwangig, die Nasenspitze ein wenig gerötet, trug diese Bertha Xylander ein Hausgewand von unerhörter Geschmacklosigkeit. Und doch verriet das sorgfältig gescheitelte Haar und die frisch-blühende Rose am Gürtel den Wunsch, zu gefallen.

„Verzeiht,“ sprach sie, die bläulichen Augen zu Boden gesenkt, „daß ich Euch vielbeschäftigten Mann stören mußte, da Ihr bei Tisch saßet. Aber Not kennt kein Gebot, wie Ihr ja wißt.“

„Ich bitte das Fräulein, sich derohalb keinerlei Vorwurf zu machen. Der Arzt ist jedermanns Diener und soll stündlich bereit sein, wenn es das Wohl seiner Mitmenschen gilt.“

„Wollt Ihr nicht Platz nehmen?“ fragte sie lächelnd und wies auf einen Stuhl in der Fensternische. „Ihr habt vielleicht zuvörderst den Wunsch, etwas von mir über den Kranken zu hören …“

„Ich danke Euch sehr. Aber ich glaube, es wäre doch zweckmäßiger, wenn ich den Herrn Patienten gleich persönlich in Augenschein nähme. Der Laie wird in derartigen Fällen gar häufig getäuscht. Ohne Eure Beobachtungsgabe irgend bezweifeln zu wollen.“

„Jawohl, Bertha!“ erklang jetzt die dumpfe Stimme des Malefikantenrichters aus dem anstoßenden Schlafzimmer. „Führe nur den Herrn Medicus ohne Umschweif herein! Ich lechze danach … Allgütiger Gott, nun kommt’s mit verdoppelter Wut! Dieser entsetzliche Alpdruck! Helft mir, Herr Doktor, bei allem, was heilig ist! Schnell, schnell!“

„Da bin ich schon!“ sagte Doktor Ambrosius. Er verneigte sich ehrerbietig. „Gern zu Euren Diensten, mein werter und hochgelahrter Herr Stadtrichter! Wo fehlt’s denn? Was? Und laßt Euch vor allen Dingen mal anschauen! Oder thut das grelle Tageslicht Euren Augen weh?“

Xylander verneinte. Der junge Arzt ging zum Fenster und schob den grauwollenen Vorhang zurück.

„Das ist nur der leidige Einfall meiner allzuvorsichtigen Bruderstochter, stöhnte Xylander. „Wenn ihr der Kopf schmerzt, dann vergräbt sie sich allemal in das schwärzeste Dunkel. Nun meint sie, das müsse auch mir helfen. Aber im Gegenteil! Ich bitt’ Euch, Herr Doktor, öffnet sogar die Fensterflügel! Ich lechze nach Luft. Jetzt weiß ich erst, was mir die ganze Zeit so todschwer über der Brust liegt.

Doktor Ambrosius öffnete beide Flügel, während die hagere Bertha schüchtern davonschlich. Es schmerzte sie, daß ihre Maßregel in Gegenwart des Doktor Ambrosius als leidig und allzu sorglich bezeichnet wurde. Diesem Mann gegenüber hätte sie lieber den Eindruck jugendlicher Leichtlebigkeit und Kühnheit gemacht. Uebrigens konnte sie ja wohl ohnedies bei der ärztlichen Untersuchung des Oheims nicht anwesend bleiben. Sie schloß die Thür und setzte sich seufzend an ihr mehrfach geleimtes Spinnrad.

Ein leichter Luftzug ging durch das niedrige Schlafzimmer Adam Xylanders, frisch und erquickend trotz der warmen Junitemperatur. Von der Seite her fiel ein goldheller Sonnenstrahl bis an die Bettstatt.

Der Kranke auf dem künstlich erhöhten Pfühl sah zum Entsetzen aus. Die winzigen Augen, die in äußerster Hilflosigkeit zu Doktor Ambrosius emporschauten, lagen ihm tief in den Höhlen. Die Nase schien größer als sonst. Um die blutlosen Lippen, die sonst so starr und so willenskräftig geschlossen waren, spielte ein fortwährendes Zucken.

„Fühlt Ihr Euch nun minder beengt, Herr Stadtrichter?“ fragte der Arzt.

„Ja … das heißt … nicht sehr wesentlich …“

„Schnürt’s Euch die Kehle?“

„Nein. Die Kehle ist frei. Es ist … Wie soll ich das nur beschreiben? Als ob sich mir da links auf die Brust eine steinerne Faust legte. Und wenn ich die Augen schließe, dann seh’ ich allerlei furchtbare Gestalten, riesige Schlangen und Lindwürmer. Die wälzen sich näher und näher und fauchen mich an mit ihrem giftigen Atem. Er stieß einen gräßlichen Schrei aus und zog die Decke zu sich herauf, wie einer, der friert. Im nächsten Augenblick begann er, zu schlottern.

Doktor Ambrosius ergriff die Hand des Patienten, um seinen Puls zu fühlen. Das war bei diesem stürmisch erregten Zustand unmöglich. Dann beugte er sich über den Mann her und lauschte den Schlägen des wild pochenden Herzens. Mit einem Male hörten die Zuckungen auf. Der Kranke atmete ruhiger und regelmäßiger. Es machte den Eindruck, als wollte sich eine tiefe Ohnmacht oder ein wohlthätiger Schlaf einstellen.

Der Arzt ging in das Nebenzimmer und dann in das Treppenhaus, um die jählings entschwundene Bertha zu holen. Sie hatte die Kammerthür offen gelassen und stürzte eiligst herbei.

„Ich bitt’ Euch,“ sagte Ambrosius leise, „gebt mir Papier und Schreibzeug!“

„Das steht alles bereit,“ flüsterte Bertha. „Hier auf dem Ecktisch.“ Auch sie hatte unwillkürlich die Stimme abgedämpft. Doktor Ambrosius ergriff die Feder und riß einen handbreiten Zettel ab. Mit seiner kernigen Rundschrift warf er ein paar lateinische Buchstaben auf das Blatt, nahm die Streubüchse und schüttete Sand darüber. Bertha beobachtete ihn, wie der frommgläubige Wallfahrer ein wunderthätiges Bild beobachtet.

„So! Habt nun die Güte, sofort zum Engel-Apothecarius zu schicken. Die Herstellung dieses Medikaments erfordert nur zwei Minuten. Ich möchte die Wirkung der ersten Dosis noch abwarten. Solang’ bleibe ich hier.“

Er setzte sich auf den gebeizten Stuhl, den ihm Bertha Xylander vorhin schon gewiesen hatte, ohne daß er der Einladung gefolgt wäre. Mit sanftem Erröten, das den Kontrast zwischen der Nasenspitze und dem übrigen Antlitz erheblich milderte, nahm sie ihm gegenüber Platz und suchte aus ihm herauszubekommen was dem verehrten Oheim eigentlich fehle. Doktor Ambrosius aber zeigte sich sehr zurückhaltend, ohne doch gerade die Höflichkeit zu verletzen. Er fühlte, daß diese Bertha Xylander um so lebhafter für ihn zu schwärmen begann, je weniger er geneigt schien, ihrer altjüngferlichen Begeisterung entgegenzukommen. Diese plötzlich erwachte Verehrung jedoch konnte bei dem offenkundigen Einfluß Berthas auf ihren Oheim irgendwie von Belang sein. Man mußte den Vorteil benutzen.

Der Malefikantenrichter hatte inzwischen bewußtlos dagelegen, ob im Schlaf der Erschöpfung, blieb unentschieden. Manche Symptome sprachen für eine Ohnmacht. Jetzt, mit einem Male, schrie er wiederum gell auf. Doktor Ambrosius und Bertha Xylander traten ins Krankenzimmer, um dem Gepeinigten hilfreiche Hand zu leisten. Er ward aufgerichtet, so daß er nun beinahe vollständig saß. Darauf erschien das kleine Laufmädchen und brachte das Medikament. Es war eine Glasphiole mit hellbrauner Flüssigkeit. Bertha füllte auf das Geheiß des Arztes eine thönerne Trinkschale mit frischem Wasser. Doktor Ambrosius schüttete etwa ein Sechstel vom Inhalt der Glasphiole hinein und hieß den Kranken die Thonschale ausschlürfen. Adam Xylander genoß den säuerlich schmeckenden Trank mit unverkennbarer Gier. Dann legte er sich wieder zurück auf den erhöhten Wollpfühl.

„Ruht Euch jetzt eine Weile!“ sagte Ambrosius. „Dann

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 391. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_391.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2022)
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