Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1897) 416.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

daß Henrich Lotefend jeden Zug ihres Angesichts eifrig beobachtete. Diesem Mann gegenüber wollte sie ihr Geheimnis unter keiner Bedingung bloßstellen. Gerade er sollte nicht nachträglich merken, welch’ einen schmerzhaft wonnigen Stich sie vorhin bei dem seltsamen Trinkspruch des Bürgermeisters verspürt hatte. Henrich Lotefend war ihr jetzt unangenehmer als je. Seit er da vor ihr zwischen den jungen Leuten saß, war sie ein brennendes Mitgefühl mit Frau Mechthildis nicht los geworden. Und dieser Teilnahme für die Betrogene mischte sich Groll und Verachtung gegen den Mann bei, der es so leicht übers Herz brachte, die treue Gefährtin so vieler Jahre um einer augenblicklichen Laune willen rücksichtslos preiszugeben. Hildegard unterschätzte bei weitem die Nachhaltigkeit einer wirklichen Leidenschaft.

Man reichte nun kümmelbestreute Brezeln herum, die frisch vom Backherd kamen, die weitberühmte Muster- und Prunkleistung der Wirtschafterin Gertrud Hegreiner. Mit den Brezeln erschien sie selbst, um sich jetzt endlich der frohen Geburtstagsgesellschaft in scheuer Sittsamkeit anzuschließen. Sie trank mit außerordentlich spitzen Lippen ein ganz winziges Schlückchen, teilte aber der ältesten Tochter des Bürgermeisters, der schlanken Elsbeth, über die lange Tafel hin das Rezept ihres Kümmelgebäcks mit, das mehr noch als der Glaustädter Salzkuchen den Wohlgeschmack des Weines erhöhe und auch sonst äußerst bekömmlich sei. „Dünn auswalzen!“ rief sie. „Das ist die Hauptsache! Der Bürgermeister lachte bei diesen Worten so ungestüm, daß Fräulein Elsbeth ihm einen Blick der Mißbilligung zuwarf. Schon früher hatte sich ihr Herr Vater zuweilen recht unzarte Anspielungen auf Gertrud Hegreiners strotzende Körperfülle erlaubt und einmal sogar buchstäblich vom Auswalzen gesprochen. Das fiel ihm jetzt wieder bei, und so platzte er los, Gutes mit Bösem vergeltend, denn die rundliche Gertrud war doch gerade am Werk, ihm durch die Mitteilung ihres Rezeptes an die kochkundige Elsbeth eine Wohlthat zu erweisen.

Gertrud Hegreiner that ihm nicht den Gefallen, gekränkt zu scheinen. Sie wandte sich, verschmitzt lächelnd, zum Hausherrn und fragte, ihr Vollmondgesicht auf die Schulter geneigt, was denn der Herr Magister zu der reizenden Ueberraschung mit dem Konterfei seines Lieblings gesagt habe.

Die Unterhaltung ward nun mit jeder Minute lebhafter. Franz Engelbert Leuthold zog das Bild aus der Brusttasche und erging sich mit der strahlenden Gertrud in Reminiscenzen aus Hildegards Kindheit. Die Pastorin Melchers flocht allerlei Streiche und Abenteuer ihrer schlimmen Margret ein, die schon mit anderthalb Jahren ein wirklicher Ausbund von Mutwille und Tollheit gewesen. Der Ratsbaumeister neckte sich scharf mit seiner schwarzlockigen Nachbarin, die sich seit jener Epoche des Mutwillens nur wenig verändert zu haben schien. Ihre Schlagfertigkeit ergötzte ihn weidlich.

Auch die übrigen Tischgenossen plauderten frisch drauflos. Sogar der schweigsame Stadtpfarrer Melchers ward jetzt ein wenig redseliger. Nur Herr Lotefend saß wie auf Kohlen und zwang sich hier und da mühsam zu einer kurzen Bemerkung. Die Art, wie Doktor Ambrosius und Hildegard Leuthold miteinander verkehrten, machte dem Tuchkramer das Blut in den Adern kochen. Zwischen dem jungen Arzt und der Haustochter wurde zwar nichts gesprochen, was nicht jedermann hätte hören können; aber die Art, wie sie sprachen, dünkte dem unseligen Manne verräterischer als alle Worte. Es war zum Wahnsinnigwerden! Lotefend schalt sich im stillen den größten Tropf des Jahrhunderts. Wo zum Teufel hatte er nur bisher seine Augen gehabt? Jetzt griff man es ja mit Händen! Und das nun so gleichgültig und still mit ansehen zu müssen! Zeuge zu sein der goldrosigen Hoffnungen, die sich auf dem jugendlich kühnen Antlitz seines bevorzugten Nebenbuhlers ebenso deutlich malte wie in den Augen des glückstrahlenden Mädchens!

Henrich Lotefend bedurfte der Anspannung all seiner Willenskraft, um eine kurze Frage, die Doktor Ambrosius rein der Form halber an ihn richtete, mit gebührender Höflichkeit zu beantworten. Er fühlte, daß ihn der Anblick dieser geheimen und doch für ihn so überaus durchsichtigen Herzensgemeinschaft beinahe zur Raserei brachte. Nach kurzer Frist suchte er einen schicklichen Vorwand, um seinen Platz zu verlassen. Er pflanzte sich für ein paar Augenblicke wie zufällig neben dem Bürgermeister Georg Kunhardt auf, der von der letzten großen Weinprobe im Glaustädter Ratskeller erzählte. Dann setzte er sich auf den freigewordenen Stuhl der Wirtschafterin; die rastlose Gertrud Hegreiner hatte schon wieder im Hause zu thun.

Georg Kunhardt klopfte dem Tuchkramer freundschaftlich auf die Schulter und sagte mit seiner dröhnenden Baßstimme:

„So ist’s recht, Lotefend! Kommt zu uns Alten! Da drunten seid Ihr ja doch nur das fünfte Rad und macht Euch höchstens den Mund wässerig.“

Lotefend lächelte bittersüß. Der Bürgermeister Georg Kunhardt war um zwölf Jahre älter als er. Handelte der nun wirklich in gutem Glauben, wenn er den Sechsundvierzigjährigen so kurzweg zu den Alten rechnete? Oder hatte der pfiffige Spürhund ihn am Ende durchschaut und wollte sich über den seufzenden Liebhaber lustig machen?

Lotefend gab eine launige, etwas gezwungen klingende Antwort. Im Herzen aber schwur er sich hoch und teuer, nun erst recht dem Geschick abzutrotzen, was es zu weigern schien, und um keinen Preis in feiger Selbstunterschätzung von Hildegard abzulassen. Wo ein leidenschaftlicher Wille obwaltete, da mußte es auch einen Weg geben, trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse. Er wollte den Weg finden, und sollte er die Erreichung des Ziels mit dem Tod bezahlen.

(Fortsetzung folgt.)


Eine Märchenstadt in Hinterindien.

Von Ernst v. Hesse-Wartegg.
Mit Illustrationen nach photographischen Aufnahmen von Lenz & Co. in Singapore.

Es war einmal ein König, der lebte in einem Feenpalaste von schönstem Marmor und Krystall; er hatte tausend der holdesten Frauen und zweitausend Sklaven, alle bereit, den geringsten seiner Wünsche zu erfüllen. Er lebte in Pracht und Herrlichkeit, seine siebenfache Krone strahlte und blitzte von Diamanten, seine kostbaren Gewänder waren ganz mit Rubinen bedeckt, und wie er so besaßen auch seine Mägdlein die köstlichsten Geschmeide. Sie waren nur da, um ihm die Zeit zu vertreiben, sie tanzten und sangen; er speiste mit ihnen von goldenen Geschirren, er fuhr mit ihnen auf dem großen Fluß in goldenen Booten spazieren, und wünschte er eine Reise zu machen, flugs standen Dutzende von Elefanten, gesattelt und mit kostbaren Decken behängt, für ihn und sein glänzendes Gefolge bereit. Ein Page fächelte ihm mit Straußenfedern Kühlung zu; ein zweiter hielt den neunfachen seidenen Schirm über ihn; ein dritter trug den goldenen, rubinenbesetzten Spucknapf. Sein Volk liebte ihn, und wenn die Leute ihren König aus der Ferne kommen sahen, so warfen sie sich vor ihm nieder. Hunderte von Prinzen waren an seinem Hofe, jeder mit seiner eigenen glänzenden Haushaltung, dazu Hunderte von schönen Prinzessinnen, aber sie durften ihre Schönheit und ihre Reichtümer niemand zeigen, denn so wollte es die Sitte des Hofes. Sie alle aber, König und Prinzen und Volk, wohnten in einer großen Stadt, inmitten von herrlichen Palmenhainen; ungeheure Tropenbäume, die großblättrige Brotfrucht, Durien, Mangroven und andere immergrüne Waldriesen beschatteten die Häuser der Stadt. Wunderbare, fremdartige Pagoden und Türme und Pyramiden erhoben sich über die Palmblattdächer der menschlichen Wohnungen, alle strotzend von Gold oder in den buntesten Farben prangend. Eine Pagode war ganz aus Porzellanrosen zusammengesetzt, eine andere aus Lotos, eine dritte aus Lilien. Ein breiter Strom durchzog die Stadt, und auf seinem Rücken schwammen Tausende und aber Tausende von Booten. Weiter draußen aber, in der Umgebung der Stadt, hausten Elefanten und Tiger; zu Tausenden hingen Fliegende Füchse an den Bäumen zwischen den Lianen, die sich von Ast zu Ast, aufwärts und abwärts hinzogen und die Wälder zu einem

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 416. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_416.jpg&oldid=- (Version vom 25.9.2022)
OSZAR »