verschiedene: Die Gartenlaube (1897) | |
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Nr. 27. | 1897. | |
Die Gartenlaube.
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Die Hexe von Glaustädt.
Abermals war eine Reihe von Tagen ins Land gezogen. Der Tuchkramer Henrich Lotefend hatte sich in seine rasende Leidenschaft bis zur völligen Urteilslosigkeit eingebohrt. Früh und spät sann er über die Mittel nach, um trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse an sein glühend ersehntes Ziel zu gelangen. Je weiter nun das Geburtstagsfest in dem Leutholdschen Rebengange zurücklag, um so hartnäckiger suchte sich Lotefend einzureden, daß er sich doch vielleicht über die Zuneigung Hildegards zu Doktor Ambrosius getäuscht habe. Die Eifersucht – so philosophierte er – war ein schlechter Beobachter. Man wußte, wie zärtlich Hildegard Leuthold an ihrem Vater hing … Die liebenswürdige Aufmerksamkeit, mit der Ambrosius den alten Magister erfreut hatte, wirkte doch ganz natürlich auf das Verhalten der Tochter. Sie wollte dem Urheber dieser reizenden Ueberraschung sich dankbar erweisen. Im übrigen war das alles vielleicht nur harmlose Koketterie und geschmeichelte Eitelkeit … Es kam noch hinzu, daß Hildegard neulich, als Henrich Lotefend sie wieder einmal über die Hecke hinaus mit freundlichem Zuruf begrüßt hatte, zwar heftig errötet war, aber es doch nicht verschmäht hatte, näher zu treten und seine Frage nach ihrem Befinden und nach dem ihres Vaters mit unbefangener Artigkeit zu beantworten. Es lag dabei ein so merkwürdiger Schimmer von Freude und Zuversicht über dem jungen Antlitz und ihre ganze Art schien so frei von Groll und Zurückhaltung, daß Henrich Lotefend beinahe Lust verspürte, auf seine zärtlichen Offenbarungen vom Lynndorfer Walde zurückzukommen. Aber die Sorge, durch ein verfrühtes Wort sie dennoch hinweg zu scheuchen, legte ihm Schweigen auf.
Wie er jetzt – gegen vier Uhr nachmittags – hinter dem rehbraunen Fenstervorhang seines Laboratoriums stand, wo seit Wochen kein Schmelztiegel gebrodelt und keine Retorte gedampft hatte, war Herr Lotefend wirklich schon halb überzeugt, daß seine Aussichten doch nicht so ungünstig seien, wie er sich damals im Leutholdschen Rebengang eingeredet. Durch den Spalt des Gewebes lugte er in das halb geöffnete Fenster des Nachbarhauses, wo Hildegard in Abwesenheit ihres Vaters ein wenig Ordnung in seine Bücher und Briefschaften brachte. Seit Verlauf einer Viertelstunde glitt ihre schlanke
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 449. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_449.jpg&oldid=- (Version vom 15.1.2018)