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Seite:Die Gartenlaube (1897) 454.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Königslautern, wo er auf Anraten des Doktor Ambrosius früh und spät unter freiem Himmel gelebt und eine Milch- und Obstkur durchgemacht hatte, schien ihm leidlich bekommen zu sein. Er sah nicht mehr so aschgrau und hohläugig aus, wenn schon der eigentümliche Druck in der Herzgegend immer noch nicht gänzlich verschwunden war. Doktor Ambrosius hatte ihm – nicht nur, um die Sache der unglücklichen Brigitta hinauszuschleppen, sondern ebensosehr aus vollster ärztlicher Ueberzeugung – angeraten, die Kur noch wenigstens bis zu Anfang September fortzusetzen.

Die Furcht jedoch, seine Abwesenheit könne den Gang der Geschäfte beeinträchtigen, quälte den pflichteifrigen Adam Xylander so ungestüm, daß er beschloß, dem ärztlichen Anspruch zuwider schon jetzt Schicht zu machen. Gerecht wie er war, hielt er es auch für eine zwecklose Grausamkeit, diese Brigitta Wedekind länger in trostloser Ungewißheit schmachten zu lassen. Und er konnte und wollte doch gerade diesen Prozeß um keinen Preis aus der Hand geben! Von Balthasar Noß hatte er sich ausdrücklich die Gunst erwirkt, die Voruntersuchung und Anklage selbst zu führen. Das war ihm beinahe zur fixen Idee geworden. Und mehrmals hatte ihn Bertha murmeln hören: „Es geht nicht anders! Die Wedekindin ruft mich bei Tag und bei Nacht!“ Wie er denn überhaupt öfters darüber klagte, daß ihn mitten im ruhigen Gemach Stimmen belästigten, deren Gemurmel und Zanken er auf übernatürliche Einflüsse zurückführte.

Es war am fünfzehnten, gegen halb elf Uhr früh, als der Beisitzer mit seiner Bruderstochter vor dem unfreundlichen Haus in der Kreuzgasse Halt machte. Der Bauernknecht, der die einspännige Karre gelenkt hatte, trug den mißfarbigen Weidenkorb mit den Habseligkeiten der stark durchrüttelten Fahrgäste breitstolpernd die Treppe hinauf, während ein dienstwilliger Bube sein Klickerspiel unterbrach und den Gaul bei den Zügeln nahm. Der Knecht ward abgelohnt, sagte: „Lebt wohl, Herr!“ und rasselte unter dem neugierigen Gaffen sämtlicher Nachbarsleute fröhlich von dannen.

Adam Xylander und Bertha reinigten sich vom Staub ihrer zweistündigen Fahrt und begaben sich dann ins Wohnzimmer. Kurz nach Elf erwarteten sie den Arzt. Bertha brannte vor Ungeduld, sein Urteil zu hören. Sie bangte ein wenig, Doktor Ambrosius werde ihr Vorwürfe machen, daß sie den Aufbruch von Königslautern nicht hintertrieben habe. Der Arzt kannte ja nicht den unbezwingbaren Eigensinn ihres sonst so gutartigen Oheims.

Schweigend saßen die zwei am Fenster. Bertha fand diese niedrige Wohnstube mit dem verbogenen Querbalken inmitten der rauchschwarzen Decke um so erdrückender, je frischer und reiner da draußen die Waldluft gewesen war und der duftige Hauch der Wiesen und Kleefelder. Das einzige, was sie mit diesem plötzlichen Tausch versöhnte, war das Bewußtsein, daß hier in der sommerlich heißen Stadt der klügste, geistvollste, liebenswürdigste Mann lebte, der jemals ein teilnehmendes Wort an sie gerichtet, Herr Doktor Ambrosius. Sie sträubte sich zwar, aber es half nichts: der sieghafte junge Arzt mit dem schön aufwärts gekräuselten Schnurrbart und den feurigen Augen war und blieb nun einmal seit jener ersten Begegnung das unsterbliche Ideal ihrer verspäteten Träume. Sie verehrte ihn selbstlos. Ohne die leiseste Hoffnung, sein Herz zu rühren, jauchzte sie schon im tiefsten Grund ihrer Seele, wenn sie sich die verzehrende Glut seiner Blicke nur vorstellte.

Doktor Ambrosius kam mit dem Glockenschlag Elf. Adam Xylander begrüßte ihn höflich, aber zurückhaltend. Bertha verbeugte sich ehrfurchtsvoll, nahm seine Hand und schob ihm glückstrahlend den Lehnstuhl heran.

Doktor Ambrosius fand den Patienten nicht annähernd so gebessert, wie Bertha gehofft hatte. Er sah jetzt deutlicher als zuvor, daß hier der Anfang einer geistigen Störung vorlag, die zum Teil wohl ererbt, zum Teil aber auch erworben war. Die schweren Erschütterungen, die der gewissensängstliche Mann in seiner Amtsthätigkeit als Blutrichter fortwährend erlitt, hatten sein psychisches Gleichgewicht offenbar unterwühlt. Doktor Ambrosius, ohne zunächst den vorzeitigen Abbruch der Kur zu tadeln, unterhielt sich mit Adam Xylander wohl dreißig Minuten lang. Spuren von Wahnvorstellungen machten sich in verschiedenen Aeußerungen des Kranken deutlich bemerkbar. Doktor Ambrosius urteilte mit vollkommenster Vorsicht, um nicht etwa die stark verbohrte, aber doch sonst geistig normale Anschauung des Fanatikers mit einer wirklichen Erkrankung des Centralorgans zu verwechseln. Bei größter Sorgfalt der Analyse blieb hier immer ein Rest, der Uebles befürchten ließ.

„Herr Stadtrichter,“ sagte Ambrosius zuletzt, „Ihr habt nicht weise gehandelt. Ihr seid noch stark überreizt. Ihr hättet den Aufenthalt in Königslautern getrost fortsetzen sollen bis in den Herbst! Heut’ noch rat’ ich Euch – wenn Ihr denn wirklich hier in der Stadt bleiben wollt – schont Euch so viel als möglich! Vor allem nehmt unter keiner Bedingung teil an den Sitzungen…“

„Aber ich bitt’ Euch!“ rief der Malefikantenrichter beinahe aufgebracht. „Soll ich denn all die Wochen her mich umsonst kasteit haben? Wofür steck’ ich meine Besoldung ein? Und was frommt mir Geist und Gelehrsamkeit, wenn ich beides nicht zum Wohle der Menschheit aufwenden soll?“

„Gewiß! Das ist edel gesprochen!“ sagte Ambrosius. „Aber wenn Euch der Anfall von neulich nun wiederkommt? Wenn Ihr elend und siech werdet auf Lebenszeit?“

„Das wird die Allweisheit der Vorsehung schon verhüten! Die Pflicht ist die Pflicht.“

„Auch die Pflicht gegen uns selbst hat ihre Ansprüche. Vierzehn Tage lang Ruhe scheint mir das mindeste, was ich beantragen muß! Schon der Luftwechsel regt Euch auf. Kommt nun die geistige Anstrengung hinzu …“

„Und die Wedekindin?“ fuhr Xylander ungeduldig heraus. „Habt Ihr die völlig vergessen? Redet mir nichts, ich beschwör’ Euch! Gott selber hat mir befohlen, die Untersuchung wider dies Weib zu fördern und Befehle des lieben Gottes erfüllt ein gläubiger Christ nicht mit Saumseligkeit.

Doktor Ambrosius erschrak heftig beim Anblick dieser jäh funkelnden Augen.

Er widersprach nicht mehr… Wenn er ihn reizte, konnte der Kranke plötzlich in Tobsucht verfallen.

„Dann freilich …“ meinte er achselzuckend. „Ihr müßt ja wissen, Herr Stadtrichter, was Ihr Euch schuldig seid.“

„Das weiß ich auch,“ versetzte der Mann etwas beruhigter. „Und nun wollt’ ich Euch noch gebeten haben, mir doch in Bälde Eure Liquidation zu senden. Ich hoffe zu Gott, Euch vor der Hand nicht mehr lästig zu fallen.“

„Wie Ihr befehlt.“

„Inzwischen dank’ ich für die geleistete Hilfe.“ Ambrosius nahm Abschied. Als er im Treppenhause mit Bertha Xylander allein war, sagte er flüsternd:

„Hegt und pflegt Euren Oheim nach Möglichkeit! Sucht ihm den übergewaltigen Amtseifer auszureden! Es wäre nicht unzweckmäßig, wenn wir beide uns eingehend über die Sache besprächen … Aber ohne daß er es merkt …“

„Vielleicht wenn er zur Sitzung gegangen ist …?“

„Nicht hier im Hause. Er könnte das nachträglich erfahren und so Verdacht schöpfen. Kranke von seiner Art – Nervenleidende – sind außerordentlich mißtrauisch.. Aber vielleicht morgen um Drei, halb Vier am Brunnen im Bürgergarten …?“

„Mit tausend Freuden! Wenn es sich um das Wohl meines Oheims handelt …“

„Also gut! Zwischen Drei und halb Vier! Lebt wohl!“

So ging er von dannen. Bertha Xylander begleitete ihn bis an die Hausthür. Als er hinaus war, schob sie nach alter Gewohnheit den Riegel vor. Dann lief sie zurück ins Wohnzimmer, um sofort den Versuch zu machen, im Sinne des Arztes auf den Patienten einzuwirken. Adam Xylander jedoch saß bereits in der Bettstube, wo es um diese Zeit kühler und dunkler war. Bertha hielt es für gut, ihn vorläufig allein zu lassen. Vielleicht schlief er ein Stündchen.

Kurz danach pochte es wieder drunten am Hausthürklopfer. Das kleine Laufmädchen öffnete. Es war niemand zu sehen. Wohl aber lag da am Boden ein Brief, den der spurlos verschwundene Ueberbringer unter dem Thürflügel hereingeschoben. Die Magd hob ihn erstaunt auf, brachte ihn nach dem Wohnzimmer und erzählte den Vorfall mit großer Weitschweifigkeit.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 454. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_454.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)
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