verschiedene: Die Gartenlaube (1897) | |
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die von kleinen in die Kanäle eingeschalteten Wasserrädern getrieben werden, verraten den Leuten im Thal durch ihr Klopfen, daß die Fuhre in Ordnung ist. Sobald es aufhört, steigen die Männer des Gebirges an den Felswänden hinauf oder in die Schluchten hinab, um den Schaden auszubessern, und nehmen dazu gleich den Priester mit, auf daß er mit den Sacramenten zur Stelle sei, wenn einer von ihnen bei der gefährlichen Arbeit stürzt. Keine Ueberlieferung oder Sage meldet, wer die „Wässerwasserfuhren“, die wegen ihrer geschickten Anlage von den Technikern viel bewundert werden, im Wallis eingeführt hat, genug, daß sie vom Volk in heiligen Ehren gehalten werden.
Höher und höher steigen die Firnberge zur Rechten und Linken hinan, jetzt biegt der Zug um, das Thal erweitert sich zu einem grünen Grund – die Lokomotive schrillt – vor uns liegt Zermatt.
Nein – vor uns steht das Matterhorn.
Nichts sieht man, nichts als es. Mit blitzenden Rändern, scharfkantig wie aus Erz getrieben hebt es sich fast einsam im westlichen Sehkreis vom blauen Sammet des Himmels ab. Was für ein maßlos kühner entzückend graziöser Berg, vor dem selbst die mächtigen Nachbarn scheu zurückweichen. Auge und Sinn werden von ihm emporgezogen, es ist im ersten Augenblick, als fliege es nach oben.
Nur nach und nach lösen sich die Blicke, die Gedanken von ihm, und dann sehen wir, daß auch Bahnhof und Dorf Zermatt vor uns stehen.
Tief wie die Hölle liegt der Ort auf entzückend frischem Wiesenteppich zwischen den Bergen. Lichte Wälder und felsunterbrochene Weiden steigen als Vorwälle des Schneegebirges so hoch auf, daß sie die meisten Gipfel der Umgebung verdecken, nur das Matterhorn steht frei und ohne Vorschranke da, ein dämonisches Weib gleichsam, das uns überall in den Weg tritt, das uns ruft und lockt, um uns zu zerschmettern. Durch die Senken der Vorberge aber kriechen die Gletscher, darunter als die größten der Gorner- und der Findelengletscher, wie riesige Eidechsen die sich sonnen wollen, hervor und langen mit ihren Zungen bis zu den äußersten Hütten des Dorfes.
Zermatt hat einen etwas italienischen Typus. Zwei Kulturen berühren sich, die alte mit einem halben Hundert schwarzgesengter Holzhütten, die von den Zeiten erzählen, da man das Matterthal noch nicht kannte (vgl. Abbildung S. 456), und die neue, die ihren Ausdruck in einem halben Dutzend großer Gailhöfe findet, von denen die meisten der Familie Seiler gehören. Wenn man sich in einem günstigen Winkel zu den schönsten Häusern des Dorfes aufstellt, so macht es fast den Eindruck eines Städtchens. Einige Hütten sind zu reizenden Bazars umgebaut, wo man die Nippsachen der Alpenwelt kaufen kann. Hochgebirgsphotographien, reizende Bilderrähmchen aus getrockneten Alpenblumen, Briefbeschwerer mit Versteinerungen, Kristalle, Erze, Gemälde berühmter und unberühmter Maler, die sich durch die Zermatter Bergwelt treiben; Bergstöcke, Nagelschuhe, Seile, Schleier, das ganze Ausrüstungsinventar für Gletschertouren.
Die einzige Straße, die Zermatt hat, ist noch so holprig wie vor Jahrhunderten, die großen Pflastersteine sind feucht, der Boden zwischen ihnen von den Hufen der vielen Maultiere aufgerissen, die hier durchgetrieben werden. Allein was für ein malerisches und ergötzliches Leben entwickelt sich nicht an diesem Dorfweg, namentlich am Morgen, wenn die Fremden nach den Gletschern und Bergen ausschwärmen, und am Abend, wenn sie wiederkehren und jeder „Eiszapfen“ von Engländerin warm erscheint im Schimmer der Blumen, die sie vor sich auf das Maultier geladen hat!
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 458. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_458.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)