verschiedene: Die Gartenlaube (1897) | |
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Nr. 29. | 1897. | |
Die Gartenlaube.
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Die Hexe von Glaustädt.
Es schlug halb Elf. Magister Leuthold saß behaglich in seinem bücherumstellten Museum und las die Geschichte der Tantalidin, die der unsägliche Schmerz um den Verlust ihrer Kinder zu Stein verwandelt. Er hatte gelegentlich seiner Martialstudien einen erläuternden Vers des Ovid gebraucht und war dann unwillkürlich von der Lektüre gefesselt worden.
Da kam zitternd und rotglühend vor Aufregung die blonde Flickschusters-Lore ins Haus gerannt. Sie stürzte atemlos nach der Küche, wo die Wirtschafterin Gertrud Hegreiner eben den Braten ansetzte.
„Um Gottes willen, was giebt’s?“ frug Gertrud.
„O, was Schlimmes!“ keuchte die Lore. „Bringt mich zum Herrn Magister! Das Fräulein schickt mich, die liebe, herzige Hildegard! Der geht’s gleich an den Kragen, wenn ihr der Herr Magister nicht hilft. Kommt! Ihr könnt’s ja dann drinnen mit anhören!“ Die Flickschusters-Lore sah so völlig verstört aus, daß Gertrud Hegreiner begriff, es müsse sich hier in der That um Leben und Tod handeln. Sie legte die eiserne Gabel weg und nahm herzklopfend das Kind bei der Hand. So gingen sie nach der Studierstube.
Franz Engelbert Leuthold, ganz vertieft in seinen Ovidius, wollte die Wirtschafterin schon etwas unsanft anlassen. Doch die geisterhaft verängstigten Augen der kleinen Lore verblüfften ihn.
Und das bebende Kind sprach drauf los, ohne zu warten, daß er nach ihrem Begehr fragte.
„Was?“ rief der Magister, aschfahl bis in die Haarwurzeln. „Dir hat wohl geträumt? Unsinn! Erzähl’ mir das noch einmal! Wie war’s und wo?“
Die Flickschusters-Lore wiederholte ihren Bericht mit sämtlichen Einzelheiten. „Ihr sollt ihr helfen – so rasch als möglich, schloß sie die hastig gestammelte Rede. „Die Blutrichter wollen sie umbringen.“
Franz Engelbert Leuthold zuckte mit keiner Wimper. Während der letzten Zeit stark überarbeitet, hatte er oft bei ganz unwichtigen Anlässen große Reizbarkeit an den Tag gelegt. Jetzt beherrschte der Mann sich vollständig. Er fühlte zu tief, wie sehr es hier darauf ankam, daß er nicht die Besonnenheit und den ruhigen Blick verlor. Er schickte zunächst die Wirtschafterin, die laut aufheulte und schrie, mit freundlicher Strenge hinaus.
„Euer Gebahren bringt mich um den Verstand, Gertrud! Was verzagt Ihr so jämmerlich? Gott der Herr wird uns ja beistehen! Geht, geht, Ihr macht mich ja toll! Du, Lore, du bleibst noch! Ich muß dich noch einiges fragen!“
Als sich Gertrud, noch immer wehklagend, entfernt hatte, nahm er das Kind väterlich bei der Hand. „Wer, behauptest du, hat meinen Engel verhaftet? Leute des Adam Xylander?“
„Ja, des Adam Xylander. In seinem Auftrag. Das hat sie ausdrücklich gesagt.“
„Und von wem rührt die Beschuldigung her?“
„Das weiß ich nicht.“ Franz Engelbert Leuthold forschte noch mit scheinbarem Gleichmut nach diesem und jenem, ohne doch Nennenswertes herauszubekommen. Dann strich er dem Kind freundlich über das glühende
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 485. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_485.jpg&oldid=- (Version vom 7.7.2023)