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Seite:Die Gartenlaube (1897) 487.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

hier die Praxis herausgebildet, von der Bestellung eines Defensors grundsätzlich abzusehen, da ein crimen exemptum, ein Ausnahmeverbrechen, vorliege, dem die Gegenrede nach Möglichkeit zu erschweren sei. Zudem war nicht mit Unrecht die Meinung verbreitet, jede Bemühung eines Sachwalters zu gunsten des Angeklagten erscheine dem Blutrichter als ein halber Beweis heimlicher Sinnes- und Geistesverwandtschaft. So beschränkte sich denn die gesamte Verteidigung auf die geringfügigen Einwände, die rein der Form wegen im Schoße des Tribunals selbst erhoben, aber vom Zentgrafen augenblicks aus der Welt geschafft wurden.

Trotzdem! Engelbert Leuthold kannte in Glaustädt wenigstens einen Mann, der ihn und seine unglückliche Tochter hier unter keiner Bedingung im Stich lassen würde. Dieser Mann war der kleine bucklige Notar Rolf Weigel, dessen unscheinbare Gestalt einen hochfliegenden, starken Geist barg, der ebensoviel Gesetzeskenntnis als Scharfsinn und Mut besaß und den Greueln der Hexenprozesse in kaum noch zu unterdrückender Feindseligkeit gegenüberstand. Unter den Brauen Leutholds flammte es wie ein Blitz. Ebensoschnell jedoch losch dieser freudige Glanz wieder aus. Es war ja doch nur traurige Selbsttäuschung! In der That bot denn auch die kühnste Beredsamkeit Weigels irgendwie eine Bürgschaft für den Triumph der Wahrheit? Und hätte man selbst die starre Unlogik des Adam Xylander mit Erfolg widerlegt, so bliebe doch immer als Hauptschrecknis der goldgierige, blutdürstige Balthasar Noß. Wen dieser Unmensch erst einmal zwischen den Pranken hielt, den gab er nicht wieder frei! Das Geschäft war zu einträglich, das Herz des Mannes zu roh und verstockt, seine Mordlust zu unersättlich.

Nein! Die Sache war hoffnungslos!

Aber … wie dann …? Wenn Hildegard schuldig befunden, wenn sie verurteilt wurde? Leuthold rannte ein paarmal durch seine Stube wie ein keuchendes Raubtier. Dann, plötzlich stehen bleibend, hob er die Hand empor.

„Gott, allmächtiger Gott! Höre du meinen Eid! Strafe mich, wenn ich ihm untreu werde! Eh’ ich das schweigend mit ansehe – eher stirbt Balthasar Noß und das ganze Gelichter von dieser Faust!“ Er sah sich im Zimmer um wie ein Verzweifelter, der eine Waffe sucht. Mit krallenden Fingern griff er nach rechts und links in die Luft. Ein gräßlicher Aufschrei. Er drehte sich halb um und fiel mit schmetterndem Krach auf den Fußboden.

Als Doktor Ambrosius – selber vollständig haltlos und einem Toten ähnlicher als einem Lebenden – kurz vor zwei Uhr bei dem Magister eintraf, fand er bereits alle Symptome einer Gehirnentzündung. Die Plötzlichkeit dieses furchtbaren Schlages hatte dem längst schon angegriffenen und widerstandsunfähig gewordenen Mann den Rest gegeben. Er lag im Delirium. Von Zeit zu Zeit stieß er mark- und beinerschütternde Angstrufe aus, klagte über die Folterknechte, die ihm die Füße zerbrächen, und wimmerte herzzerreißend. „Hildegard, meine arme, verlorene Hildegard!“

Doktor Ambrosius, dem die Gedanken hinter der heißen Stirn jagten wie glührote Wolken, erteilte die nötigen Anordnungen und verließ dann in fürchterlichster Verfassung das Haus. All seine Patienten vergessend, rannte er ein Stück nach dem Lynndorfer Gehölz zu, um sich halbwegs zu sammeln.

Unter dem Gehen fiel ihm Bertha Xylander ein, die er auf heute zwischen Drei und halb Vier an den Brunnen im Bürgergarten bestellt hatte. Vielleicht war das ein Wink des Schicksals, vielleicht konnte er durch diese leicht zu beeinflussende nervenschwache Person auch zu gunsten Hildegards eine Wirkung auf Adam Xylander ausüben. Was er zu thun hatte und wie er das anfangen sollte, darüber war er sich jetzt nicht klar. Nur soviel begriff er, daß er hier die vollkommenste Selbstbeherrschung zu üben hatte. Bertha Xylander durfte nicht ahnen, wie er mit Hildegard stand und was für ihn von dem Schicksale der Beschuldigten abhing.

Das Herz zerfressen von Weh, zwischen Hoffen und Furcht hin und her geschüttelt und innerlich beinahe erliegend, fand er gleichwohl die Kraft, seine Gemütsbewegung langsam zu meistern. So schritt er in scheinbarer Gelassenheit dem südöstlichen Stadtviertel zu, wo der baumreiche Bürgergarten jetzt stumm und verwaist in der lodernden Sonne des Julitages dahinbrütete.

Bertha Xylander war schon zur Stelle. Sie hatte sich mit ihrem Nähzeug ganz harmlos auf eine schattige Bank in der zweiten Allee gesetzt, so daß die Begegnung, wenn sie beobachtet wurde, den Eindruck vollkommenster Zufälligkeit machen mußte. Auch Doktor Ambrosius schlenderte wie in Gedanken und ohne die mindeste Absicht daher, obgleich hier keine menschliche Seele die Einsamkeit störte.

Bertha Xylander empfing ihn mit dem sanftstrahlenden Blick einer Verklärten. Dann ward sie urplötzlich traurig.

Doktor Ambrosius hatte ihr zur Begrüßung die Hand gereicht. „Setzt Euch!“ bat sie mit einem Seufzer. „Was habt Ihr?“ fragte Ambrosius. „Ach, ich bin unglücklich! Ueber den Oheim! Jetzt, wo ich schon dachte, wir hätten ihn endgültig auf den Weg der Vernunft gebracht, jetzt schreit er mich gräßlich an und schimpft und treibt’s mit der Arbeit toller als je zuvor. Und gestern denkt nur – hat er mir untersagt, Euren Namen irgendwann vor ihm auszusprechen. Er hat eine Antipathie gegen Euch. Er brennt darauf, Euch möglichst schnell das ärztliche Honorar zu behändigen, um ja fürder nichts mehr von Euch zu sehn noch zu hören.“

„Aber weshalb?“

„Weil Ihr im Haus der Malefikantin Wedekind wohnt,“ stotterte Bertha. „Als ich zuerst nach Euch schickte, hat er das nicht gewußt. Erst später – da draußen in Königslautern ist’s ihm bekannt geworden. Da hätt’ er Euch denn am liebsten sofort aufgekündigt …“

„Schlimm!“ sagte Ambrosius.

Er hatte schon neulich etwas von dieser Antipathie verspürt. Jetzt schien sie für allezeit unwiderruflich ausgesprochen. Die Haupthoffnung, die er halb unbewußt an die Begegnung mit Bertha geknüpft hatte, es werde ihm glücken, durch ihren Einfluß erneuten Zutritt ins Haus zu erlangen – schwand ihm so unter den Fingern hinweg.

„Schlimm!“ wiederholte er nachdenklich. „Wo das Vertrauen fehlt, da ist’s freilich am Ende! Nun käme ich nicht, und wenn Ihr mich auf den Knieen drum anflehtet. Nicht, daß ich grollte! Beileibe! Nur weil ich jede Maßnahme, die ich hier treffen möchte, für fruchtlos halte. Inzwischen kann ich nur eins raten. Sorgt dafür, daß er in seiner Amtsthätigkeit nichts übereilt! Er hat ein so zartes, leicht verletztes Gewissen, und diese Feinfühligkeit ist durch die immer noch obwaltende Krankheit derart geschärft worden, daß für ihn alles zu fürchten steht, wenn er einmal nachträglich zu der Erkenntnis käme, daß er zu mitleidslos und grausam geurteilt. Sucht ihm das beizubringen! Mich aber erwähnt ja nicht. Um keinen Preis! Ihr werdet schon wissen, wo und wie er am besten zu packen ist.“

„Ich will sehen, was sich da thun läßt. Wie gütig und liebenswürdig von Euch, mir so die Richtung zu weisen …“

Doktor Ambrosius erhob sich. Er hielt es nicht länger aus, hier den unbeteiligten ärztlichen Freund zu spielen, während das Herz ihm vor heimlicher Angst beinahe in Stücke brach.

„Ich danke Euch noch vieltausendmal!“ stammelte Bertha. „Laßt mich die Unfreundlichkeit meines Oheims ja nicht entgelten!“

„Gewiß nicht!“

So trennten sie sich. Doktor Ambrosius war der Verzweiflung nahe. Jetzt erst kam es dem Hoffnungslosen klar zum Bewußtsein, daß selbst mit einer ernsthaften Beeinflussung Adam Xylanders wenig gewonnen war. Die Seele des Malefikantengerichtes hieß ja Balthasar Noß!

16.

Am Morgen dieses ereignisvollen Tages hatte sich Doktor Adam Xylander gegen halb Zehn nach dem Stadtgerichte begeben und sich vorläufig in seinem Eigenraum aufgehalten, wo ihn dann kurz vor Elf die kleine Flickschusters-Lore mit dem Brief des Magisters antraf. Punkt Elf sollte in der Gerichtshalle die Untersuchung gegen die nun seit Wochen schon im Stockhause schmachtende Ehewirtin des Zunftobermeisters Karl Wedekind stattfinden. Doktor Xylander hätte die nochmalige Durchsicht der Akten ebensogut in seiner Wohnung vornehmen können. Aber es drängte ihn, nach so langer Abwesenheit möglichst frühzeitig dem Schauplatz seiner amtlichen Thätigkeit nahe zu sein. Er würde auch die Sitzung schon auf halb Acht – statt auf Elf

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 487. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_487.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)
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