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Seite:Die Gartenlaube (1897) 512.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

wie von einem Schleier getrübt war. Heute wußte er, warum, und was sie in der Stunde gedacht, in sich zu fühlen begonnen. Damals war er aufgesprungen und hatte den Arm um sie schlingen wollen. Wenn ihr Vater nicht hereingetreten wäre und er es gethan hätte? Was wäre geschehen und was würde heute sein?

Umsonst, so zu fragen –

Das Kopftuch war jenes, das ihm zu seiner Verkleidung mitgedient. Als letztes hatte ihre Hand es beim Abschied ihm abgelöst – nein, sie war noch einmal zurückgekommen, ihm die Arme um den Nacken zu schlingen und ihn zu küssen. Ein übermächtig aus ihrem Kinderherzen aufwogendes Gefühl, ein Gruß der Liebe! Dunkelverworren hatte er es empfunden – aber sie war die Braut eines andern gewesen. Und sie hatte an Geist und Bildung so tief unter ihm zu sein gemeint, daß keine Möglichkeit sei, er könne Liebe für sie fühlen. Geist und Bildung – und Herzensglück – als Gewichte auf die Waage des Lebens gelegt! Bittere Worte – umsonst auch sie!

Er nahm das Tuch, das sie bis zu ihrem letzten Tag um den Hals getragen und schlang es sich wieder über den Kopf, wie ein Anhauch kam’s ihm daraus, als ob ihre warme Hand es noch eben gehalten habe. So saß er, nach dem Stein unter der Linde hinüberblickend, bis tiefes Dämmerlicht ihn mit Schleiern umwob. Da zündete er seine Lampe an und versuchte zu arbeiten.

Am anderen Tage ging er mit dem Vorstand der Dorfgemeinde auf den Friedhof, bestimmte als zukünftige Grabstätte für sich einen leeren Platz an der Seite derjenigen Gerlind Toralts und erkaufte sich den Grund. –

Die sicher geführte Herstellung des großen Neubaus unseres Reiches, an dessen zu frühzeitige Aufrichtung Alban Hartlaub mit Hand gelegt, hat er nicht mehr gesehen. Im Frühsommer des Jahres 1870 fand seine Wirtschafterin ihn eines Morgens auf der Ruhebank seines Arbeitszimmers für immer entschlafen. Eine heiße Nacht war’s gewesen, er mochte sich, statt ins Bett, dorthin gelegt haben und war im Schlaf vom Schlag getroffen worden, ruhig, wie in sanftem Schlummer lag er. Das Fenster stand offen, und das letzte, was er empfunden, mußte der Duft der Linde gewesen sein, die auf dem Friedhof zu blühen begonnen. Unter ihrem Schatten hat man ihn nach seiner Bestimmung neben Gerlind in die Erde gelegt.


Vom „echten“ Dialekt in der Dichtung.

Glossen zu einer alten Streitfrage.
Von Johannes Proelß.

Die Freude an der Darstellung des wirklichen Lebens in ungeschminkter Frische und in dem vollen Farbenreiz der Natur hat in der modernen Dichtung dem Dialekt zu einer Rolle verholfen, welche die Litteratur früherer Epochen niemals gekannt hat. Kaum wird heutzutage noch eine Dorfgeschichte geschrieben, in welcher nicht die Mundart einer besonderen Landschaft zur Darstellung gelangte, ja selbst der Gassendialekt unserer Großstädte ist längst „litteraturfähig“ geworden und zählt für die meisten Romanschriftsteller der Gegenwart zu den berechtigten Mitteln poetischer Charakteristik.

Aber so allgemeiner Beliebtheit die Dialektdichtung und der Dialekt im Roman sich gegenwärtig erfreuen, so selten findet irgend eine Schöpfung dieser Art auch allgemeine Anerkennung in Bezug auf die Echtheit des darin angewandten Dialektes. Eine jede stößt auf hochnotpeinliche Kritiker, die mit unbarmherziger Schärfe oder höhnischem Spott die „Unechtheit“ desselben nachweisen. Und das ist keine neue Erscheinung. Bereits den ersten hervorragenden Versuchen, den deutschen Mundarten das alte Heimatrecht in der poetischen Litteratur zurückzuerobern, ist es so ergangen. Fast alle berühmten Dialektdichter dieses Jahrhunderts, deren Werke in den festen Besitzstand unserer Nationallitteratur übergingen, die großen Bahnbrecher Hebel und Reuter nicht ausgenommen, hatten darunter zu leiden. Schon daraus läßt sich schließen, daß die Veranlassung dazu im Wesen des Dialektes selbst liegen muß.

Und in der That! Schon die Bezeichnung „Mundart“ weist darauf hin. Im Unterschied zur Schriftsprache haben die landschaftlichen Dialekte jahrhundertelang im Munde der Leute volle Freiheit genossen, ohne sich den Fesseln schriftlicher Aufzeichnung fügen zu müssen. Das hat ihnen ihre Ursprünglichkeit, Bildlichkeit und Frische bewahrt, sie aber auch mit jenen eigenartigen Lautgebilden durchsetzt, die sich einer genauen Wiedergabe durch die Schriftzeichen unseres Alphabetes zumeist entziehen. Fast jeder deutsche Volksdialekt hat gequetschte Vokale, verschliffene Doppelkonsonanten, unklare Diphthonge, die sich mit unseren Schriftzeichen nur andeuten lassen. Je mehr man sich aber bemüht, durch zusammengesetzte Vokale, Dehnungszeichen oder gar neuerfundene Buchstaben dem Klange eines besonderen Dialektes gerecht zu werden, um so schwieriger wird die Lektüre auch für den, welcher durchs Gehör mit dem Dialekte vertraut ist.

Darum ist die volle Echtheit irgend einer Mundart in schriftlicher Aufzeichnung von vornherein ein Ding der Unmöglichkeit. Auch derjenige Dichter, dessen künstlerischer Zweck mit der Absicht zusammenfällt, einen besonderen Dialekt recht genau wiederzugeben, wird sich darin Beschränkungen auferlegen müssen. Wie aber, wenn der Dichter für seinen Zweck gar nicht diese Genauigkeit braucht? Wenn er die Mundart z. B. nur anwendet, um in einer hochdeutschen Erzählung bestimmte Personen als Kinder einer besonderen Volksart zu charakterisieren und damit den unmittelbaren Eindruck der Lebenswahrheit des Erzählten zu erhöhen? Wenn er dabei vor allem verstanden sein will von recht vielen – auch solchen, die außerhalb der Grenzpfähle des angewandten Dialektes wohnen? In den Zwiespalt versetzt, wie Rosegger sagt, zwischen der Absicht, die Mundart genau wiederzugeben, und dem Bestreben, sie für weitere Kreise leserlich und verständlich zu machen, wird er die Rücksicht auf die Leichtverständlichkeit sich zur Richtschnur nehmen. Und er wird damit unbewußt dem Rate folgen, den schon Goethe erteilte, als ihm Hebels „Alemannische Gedichte“ als etwas Neues entgegentraten. Er spendete Hebel in der „Jenaer Litteraturzeitung“ hohes Lob wegen der reizvollen Frische und poetischen Anschaulichkeit dieser Lebensbilder aus der anmutigen Gegend, durch welche die liebliche Feldbergtochter, die Wiese, dem Rheine entgegeneilt. Rückhaltslos gab der Dichter von „Hermann und Dorothea“ auch zu, daß die „behagliche naive Sprache“, deren sich Hebel bedient habe, für dessen Zwecke „vor unserer Büchersprache“ unbedingte Vorzüge habe. Aber am Schlusse bedauert er doch, daß die für das mittlere und nördliche Deutschland seltsame Sprache und Schreibart ein Hindernis sei, um die ganze Nation an dem Genuß teilnehmen zu lassen. Und so sprach er den Wunsch aus, daß dies Hindernis einigermaßen gehoben werde durch Annäherung des Dialektes an die gewohnte Schreib- und Sprechweise.

Hebel benutzte den Wink und unterwarf die Alemannischen Gedichte einer Ueberarbeitung, die auf den erweiterten Leserkreis durch manche „Annäherung“ an das Schriftdeutsche Rücksicht nahm, und der Erfolg dieser neuen Auflage gab ihm und dem Altmeister recht. Aber damit war auch das Signal für die Entfesselung des Streites gegeben, der sich seitdem stets wieder erneut hat, sobald es einem deutschen Dialektdichter gelang, jenseit der Grenzen seiner Mundart für seine Dichtungen reges Interesse zu finden. Die alten Freunde der Gedichte in Hebels engerer Heimat zeigten sich mit den Aenderungen durchaus nicht einverstanden, und man forderte von ihm die Wiederherstellung der Lesarten der ersten Auflage, weil sie viel „echter“ gewesen seien. Hebel beharrte auf seinem Standpunkt. Er empfand, daß es leichter und lohnender sei, dem großen, Schriftdeutsch redenden Publikum entgegenzukommen als alle Ansprüche der alemannisch redenden Landsleute zufriedenzustellen. Hat doch der alemannische Dialekt in jedem Schwarzwaldthal seine besonderen Eigentümlichkeiten, die schon im Nachbarthal als fremdartig berühren, und so war es unvermeidlich, daß die besondere alemannische Sprechweise, die im Thal der Wiese daheim ist, kritisch gespitzten Ohren, die eine andere Abart des Dialektes für den einzig richtigen hielten, Anlaß zu allerhand Einwand bot. Berthold Auerbach, der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 512. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_512.jpg&oldid=- (Version vom 8.7.2023)
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