Verschiedene: Die Gartenlaube (1897) | |
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Pastor Erdmann hatte sich schon gleich den zweiten, etwas kleineren Korbstuhl, ohne Kissen, der auch an dem breiten Fenster stand, um den Arbeitstisch herum näher herangezogen und legte jetzt seine weiße, weiche, rundliche Hand auf die schmächtigen Finger der Sprechenden. „Meine liebe Frau Doktorin, ich freue mich, Sie so frisch zu sehen, nach dem bösen Anfall in voriger Woche. Sie haben uns recht erschreckt!“
„Ja, ja,“ antwortete sie lächelnd, „das merkte ich wohl, und aus lauter Beschämung darüber habe ich mich so schnell erholt.“
„Ich fürchte, aus lauter Beschämung prahlst du jetzt fortwährend,“ sagte Hanna, die nach einem Blick auf den Tisch wieder zu der Mutter getreten war. Sie strich ihr über den silberig schimmernden Scheitel und über die schmalen, immer noch weichen Wangen; tiefe, wehvolle Sorge lag in dem Ausdruck, mit dem sie auf die Vielgeliebte niedersah.
Günther hatte indessen nur seine Noten auf dem Klavier abgelegt und war dann auf dem Weg zum Fenster am Tische stehen geblieben. „Hm!“ sagte er wohlgefällig und beugte sich, indem er seinen breiten schwarzen Bart wie ein Kind seine vorgebundene Serviette mit beiden Händen festhielt, darüber, um die Schüssel in der Mitte näher zu betrachten. „Fein! Famos! Blumenkohlsalat! Wieder was anderes! Mamachen gemacht, natürlich, was?“
Hanna nickte ihm lächelnd zu. Ihr fiel von neuem der fast komische Gegensatz zwischen seinem ganz kindlichen, leckerhaft schmunzelnden kleinen Munde und der martialischen Bartwildnis, dem mächtigen Haarschopf über der breiten Stirne auf. Auch die kräftige Nase wollte zu dem unreifen Knabenmäulchen nicht passen. Nur die siegreich fröhlichen Augen sprühten noch durchaus zwanzigjährig und schienen von der nun doch schon lange erlebten Mühsal des Musikantenberufes nichts wissen zu wollen.
„Ja,“ sagte das Mädchen nach dieser kleinen Betrachtungspause. „Sie wissen ja, ihren Samstagabendsalat läßt sich Mutter nicht nehmen. Ich trag’ ihr immer alles herein was sie braucht, und dann mischt und rührt sie, daß es ein Vergnügen ist, ihr zuzusehen. Ich möcht auch keinen anderen, als den sie gemacht hat! Jetzt werd’ ich aber doch sorgen, daß wir etwas zu trinken kriegen, und dann kann das Festmahl seinen Anfang nehmen.“ Herr Rettenbacher ist hinausgegangen. Jedenfalls will er schnell noch einen Blick in seinen großen Familienbrief thun.
Seine Thür, an der sie vorbeikam, stand offen. Bei der brennenden Lampe stand er an seinem Pult und las.
„Gute Nachrichten?“ rief sie fragend hinein.
„Danke,“ gab er zurück, ohne aufzusehen. „Bin noch lange nicht durch, überfliege nur.“
„Uebrigens,“ sagte Hanna, den Schritt anhaltend und zu seiner Schwelle zurückkehrend, „ich könnte Ihnen jetzt geschwind das Geld geben.“
„Aber das hätte ja Zeit, Fräulein Hanna, bis morgen, bis Montag nachmittag sogar.“
„Zeit! Ja doch! Aber, ich möchte es los sein. Verstehen Sie nicht? Es ist mir, als wäre dann die Freude näher, wenn ich es Ihnen schon übergeben habe, als dauerte es dann nicht mehr so lange. Warten Sie, ich hol’ es, es ist ein Augenblick.“
Sie huschte davon und war gleich wieder da, ein Schächtelchen in der Hand. Rettenbacher war ihr bis zur Thür entgegen gekommen. Als sie das Geld herausschütten wollte, sagte er. „Geben Sie mir’s so, wie es da ist, mit dem Kästchen. Oder brauchen Sie das noch?“
„Nein. Aber wozu?“
Darauf antwortete er nicht, sondern nahm es ihr aus der Hand.
„Also gut,“ sagte er dann. „Am Montag. Ich würde sagen Punkt Sieben, nicht wahr?“
„Ja! O Himmel, wie freue ich mich! Und jetzt geschwind das Bier!“
„Darf ich vielleicht helfen?“
„Nein das dürfen Sie nicht. Aber kommen Sie hinein! Ihren Brief lesen Sie später mit mehr Gemütsruhe.“
Drinnen war das Fenster geschlossen worden. Was nun noch von „Sommerluft“ hereinkam, langte nicht mehr viel.
Rettenbacher und Günther trugen Frau Wasenius zum Tisch, nachdem Hanna sorgsam die willenlosen armen Füße vom Schemel auf das schwebende Brettchen gehoben hatte. Das war das „Samstagsrecht“ der beiden, seit diese gemütlichen Musikantenabende eingerichtet worden waren. Für dieses eine Mal in der Woche ließ sich Hanna, die sonst mit der kräftigen jungen Magd zusammen diesen Dienst versah, von ihrem Posten verdrängen. Lächelnd sah sie dem beklommenen Aufatmen der Kranken zu, als der Stuhl gehoben wurde. Nicht mehr lange wird dir das Pein machen, mein Armes, dachte sie. ‚Wart’ nur wart‘, nachher wirst du gefahren.
„Seufzen Sie nicht so gottsjämmerlich, Mamachen,“ sagte Günther. „Sie thun ja wahrhaftig, als wenn wir unter Ihrer Last zusammenbrechen müßten. Wenn Sie nicht gleich wieder ein vergnügtes Gesicht machen, dann laß ich Sie am steifen Arm verhungern.“
„Lieber nicht,“ wehrte Frau Wasenius, schon wieder erheitert. „Das würde sehr lange dauern, und da kämen Sie ja selbst um Ihr Abendbrot. Bitte, lieber Herr Pastor – sie wies auf das kalte Fleisch und den Salat – Ehrwürden fangen an.
Der geistliche Herr nahm sein von Rettenbacher gefülltes Glas in die Hand. „Der erste Gruß heute abend,“ sagte er, „gebührt unserm lieben Kirchenchor. Meine Freunde, wie schön habt ihr wieder gesungen! Wie habt ihr mir zutiefst das Herz bewegt! Besonders mit dem ersten, das ich ja noch gar nicht kannte! Von wem ist denn diese hinreißende Komposition?“
„Von unserm Becker natürlich,“ antwortete Günther. „Klang es Ihnen nicht ganz Beckerisch?“
„Es klang mir wie etwas, dem man regungslos zuhört, mit weitem, weitem Herzen, und auf das man schweigt, weil man nichts mehr sagen kann. Ich hab’ noch predigen müssen hinterher … Aber nun – wenden wir uns den irdischen Genüssen zu!“
„Die übrigens auch nicht zu verachten sind,“ warf Günther behaglich ein. „Mamachen, prosit! Es schmeckt wieder göttlich! Der Rettenbacher kann lachen. Ich wollt’, ich wär’ auch Ihr Pensionär!“
„Ja, glauben Sie denn,“ sagte Hanna, „daß der alle Abende Salat und zweierlei Aufschnitt bekommt? Dieses sind nur unsere Samstagsorgien. An allen übrigen Tagen sieht die Geschichte bedenklich anders aus.
„Nun, ich meine, der Augenschein lehrt, daß ich mich recht wohl bei diesen Zuständen befinde,“ sagte Rettenbacher mit einem warmen, dankbaren Blick auf Frau Wasenius, die, schweigsamer als gewöhnlich, mit nur mühsam beherrschter, trauriger Beklommenheit vor sich hinschaute.
Sie hob jetzt den Kopf und nickte dem jungen Mann zu …
„Jedenfalls lebt er nun regelmäßiger, also gesünder,“ sagte sie, sie richtete sich ein wenig auf, mit dem offenbaren Vorsatz, sich zusammenzunehmen und sich von nun an besser an der Unterhaltung zu beteiligen. „Vor einem Jahr“, fuhr sie fort, „– so lange ist es ja nun wohl gerade? – da wußte er nie, wann er eigentlich zu Mittag äße, und ob er überhaupt dazu kommen würde. Den Privatunterricht, außerhalb der Schulstunden, hatte er sich unglaublich unpraktisch gelegt, eine so unpraktische Tageseinteilung und eine so ungesunde Bedürfnislosigkeit habe ich noch nie gesehen. Wissen Sie noch den Tag, wie ich einmal dahinter kam? – Ich seh’ es noch, wie Sie hier hereintraten, um mir den Einschreibebrief zu bringen. Sie hatten ja wohl das Mädchen auf die Post geschickt und machten darum selbst die Thür auf, als es klingelte. Hanna war nicht zu Hause. Ich seh’ noch das magere, elende Magistergesicht, gerade in dem hellen Sonnenstreifen. Es war etwas darin, was mich – rührte, möcht’ ich sagen, was mich an meinen Mann erinnerte, als er noch jung war. Ich schämte mich ganz plötzlich, daß ich so gar und gar nichts von diesem Menschen wußte, der doch nun schon ein Jahr lang mein ,Chambregarnist’ war. Er war eine wesenlose Gestalt für mich geblieben. Nun, daß er seines Zeichens Lehrer war, das wußten wir. – Ich weiß, was Sie sagen wollen, wehrte sie mit einer sanften Bewegung der müden Hand, „wie hätten wir zu näherer Bekanntschaft kommen sollen? Sie schickten pünktlich an jedem Ersten durch das Mädchen, das Ihnen früh den Kaffee brachte, Ihre Miete herein. Das war unser ganzer Zusammenhang. Aber als ich Sie dann so vor mir stehen sah, mit diesem Ueberarbeitungsgesicht, das mich so an damals erinnerte, und aus Höflichkeit ein paar Worte mit Ihnen wechselte und dann also anfing, mich zu schämen, und weiter und weiter fragte, und wie dann eins sich
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 523. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_523.jpg&oldid=- (Version vom 15.12.2017)