Verschiedene: Die Gartenlaube (1897) | |
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„Erbarmen! Da Ihr mich retten könnt, thut es um Christi willen und aus selbstloser Freundschaft! Ach du mein himmlischer Heiland! Fühlt Ihr denn gar kein Mitleid? Ich bin noch so jung! O, und mein armer unglücklicher Vater! Das Herz muß ihm ja in der Brust zerbrechen, wenn er sein einziges Kind so elend verderben sieht!“
„Es steht bei Euch, ihm dies Weh zu ersparen“ murmelte Lotefend. Er sah nicht den Jammer der lieblich edlen Dulderin, die sich hier vor ihm wie eine Sklavin im Staube wand, sondern lediglich das sinnbethörende reizende Weib. Unerschütterlicher als je stand sein Entschluß, sie um nichts in der Welt loszugeben. Wenn sie an dem verhaßten Arzt festhielt, wenn sie es vorzog, um ihres Treuschwurs willen zu sterben, anstatt mit ihm, ihrem Befreier, zu leben, dann mochte sich ihr Unheil erfüllen. Der Gedanke schien ihm erträglicher, daß diese wonnigen Glieder vom Henker zermalmt würden, als daß sie den glücklichen Nebenbuhler in seliger Liebkosung umschlängen.
Hildegard weinte und wimmerte. Ihre haarüberwallte Stirn berührte jetzt beinahe den Fußboden. Lotefend aber blieb stumm und regungslos.
Plötzlich erhob sie sich. Ihr Antlitz glühte. Ein Blick voll der unsäglichsten Geringschätzung flammte unter den braunen Wimpern hervor. „Ich verachte Euch,“ sagte sie stolz. „Ihr seid nicht wert, daß ein ehrliches Weib vor Euch bettelt.“
Und dann hauchte sie fast unhörbar: „Allgütiger Gott, erbarme dich mein in Gnaden! Ach, und vergieb mir, wenn ich dem teuren Vater nun Weh bereite! Du weißt es, ich konnte nicht anders!“
„Das ist Euer letztes Wort?“ fragte der Tuchkramer.
Sie wandte sich ab und schwieg.
Henrich Lotefend ballte die Fäuste. „Ihr habt’s gewollt! Er nahm die Laterne und schritt zornbebend hinaus. Er hatte sich diesen Weggang aus der Malefikantenzelle anders gedacht. Ein dunkler Drang wandelte ihn jetzt an, sich selbst zu verhöhnen. Als er jedoch von drüben Angstschreie und dumpfes Gestöhne vernahm – das Wehklagen verstummte in dieser Abteilung des Stockhauses nie vollständig – da wuchs ihm augenblicklich wieder die Zuversicht. Noch ein paar Tage Haft und Angst vor der Tortur –. das würde die Halsstarrige mürb’ und gefügig machen und ihr die albernen Gefühlsschwärmereien schon austreiben! Man mußte Geduld haben.
„Sie sträubt sich noch,“ flüsterte er, als Godwin ihn fragend anstarrte. „Legt ihr nur einstweilen wieder die Ketten an! Natürlich geb’ ich’s noch lange nicht auf. Ich komme wieder!“
„Schade,“ murmelte Godwin trübselig. „Und wenn sie nun auch das nächste Mal störrisch bleibt?“
„Das wird sie nicht. Die Folterknechte sind gar beredte Fürsprecher.“
„Wer weiß! Man hat da schon merkwürdige Dinge erlebt …“
„Warten wir’s ab!“ versetzte Lotefend hochfahrend.
Der Kerkermeister brachte ihn nach dem Ausgang. Die beiden Speerwächter ließen ihn schweigend vorüber. Auf dem langen Weg durch die nächtliche Stadt nach der Grossachstraße übersann er die Lage. Er schäumte vor Ingrimm. Wie mußte dies wonnevolle Geschöpf den Doktor Ambrosius vergöttern, um selbst da noch ihm Treue zu halten, wo diese Treue gleichbedeutend war mit Tod und Verzweiflung! Henrich Lotefend fragte sich, ob die Schrecknisse der Haft allein ausreichen würden, Hildegards Hartnäckigkeit zu beugen. Es widerstrebte ihm, ihre blühende Schönheit durch die Marterwerkzeuge des Zentgrafen verunglimpfen zu lassen. Aber wenn es kein andres Mittel gab …?
Als er sein prächtiges Wohnhaus betrat, wo die ahnungslose Mechthildis schon längst schlief, war er mit sich im reinen. Noch einmal wollte er – morgen vielleicht oder übermorgen, sein Heil versuchen, ehe man Hildegard peinlich verhört haben würde. Nach allem, was er bis jetzt erlebt hatte, konnte es nicht gerade schwer fallen, den goldgierigen Balthasar Noß derart zu beeinflussen, daß er mit seiner Folter zunächst Maß hielt. Es gab eine Grenze, wo die Verzweiflung anfing, ohne daß doch der Leib ernstlich beschädigt wurde. Wenn dann Hildegard nur voll Hingebung einwilligte, so würde sie immer noch mit dem Schrecken davon kommen.
(Fortsetzung folgt.)
Wetterverheerungen in Württemberg. Im nördlichen Teil des schönen Schwabenlandes herrscht grenzenloser Jammer. Sturm, Hagel und Wasser haben dort Verwüstungen angerichtet, die aller Beschreibung spotten. In der Nacht vom 30. Juni zum 1. Juli geschah das Unglück. Nach einem heißen sengenden Tag voll dumpfer Schwüle kam gegen Mitternacht das Unwetter zum Ausbruch. Ein Sturmesbrausen erhob sich, wie man es aus den freundlichen Geländen des Neckars noch nie gehört. Nicht stoßweise wütend, nicht zeitweise nachlassend, sondern ohne Rast und Ruh’ mit stetig schwellender Kraft jagte die grausige Windsbraut daher. Vergebens lauschte das Ohr auf ein Innehalten, ein Atemholen des Orkans. Blitze durchzuckten die schwarzen drohenden Wolken, bis schließlich ein ununterbrochenes Leuchten entstand. Der ganze Himmel schien in Flammen aufzugehen. Mit dumpfem Rollen und gewaltigen Schlägen begleitete der Donner das unheimliche Leuchten. Es war, als wollte die Erde aus den Fugen gehen und die Himmelsdecke über den unglücklichen Menschen zusammenstürzen. Wie Rohrhalme knickte der Wirbelsturm die stärksten Bäume, spielend riß er Essen und Dachgiebel von den Häusern. Doch weit schlimmere Verwüstung noch als der Sturm richtete der Hagel an, der sich ihm nach einer bangen Viertelstunde beigesellte. Vom Winde gepeitscht, rasselten die Hagelkörner in dichten Massen nieder, zum Teil so groß wie Hühnereier. Sie zertrümmerten die Fenster, durchschlugen die Dächer, zerstampften Gärten und Wiesen, Aecker und Weinberge. Eine Viertelstunde – an einigen Orten noch länger – dauerte der Hagelschlag, dann regnete es in Strömen, Sturm und Gewitter ließen allmählich nach.
Am Morgen bot sich den Bewohnern der betroffenen Bezirke ein entsetzlich trauriger Anblick dar; überall ein Bild vollständigster Verwüstung und Zerstörung. Die Dächer vom Hagel geradezu zerhackt, da und dort ein Dachgiebel eingestürzt, die Verblendung an den Gebäuden herabgeschlagen, die Fenster, zum Teil samt Läden, zertrümmert, die Wände der Häuser von dem eingedrungenen Regen durchweicht, Möbel und Hausgerät beschädigt. Die Obstbäume sind entlaubt, geschält, der Aeste beraubt, entwurzelt, in einzelnen Gegenden sind nur wenige noch lebensfähig. Oede und kahl stehen die Weinberge, kein Laub ist mehr zu sehen, die Reben sind an den Boden geschlagen, selbst die Rebpfähle sind vielfach zersplittert. Die Fruchtfelder sehen aus, als wären Reitermassen darüber hingejagt und hätten alles bis aufs kleinste Hälmlein in die Erde gestampft. Gewitter mit wolkenbruchartigem Regen vermehrten noch in den folgenden Nächten an mehreren Orten das Unheil der Schreckensnacht vom 1. Juli.
Die Verwüstung umfaßt ein Gebiet von etwa 400 Quadratkilometern. Zahlreiche Gemeinden der Bezirke Brackenheim, Heilbronn, Neckarsulm, Weinsberg, Oehringen, Künzelsau, Hall, Gerabronn sind über Nacht verarmt. Der Notstand erfordert dort augenblickliche Hilfe, es fehlt nicht nur an Ziegeln und Glas, um die Häuser gegen die Unbilden der Witterung zu schützen, sondern auch an Sämereien, Pflanzensetzlingen, Streumitteln, an einzelnen Orten sogar an Lebensmitteln, Kleidungsstücken und Bettzeug. Die größere und schwerste Not aber wird im kommenden Winter und Frühjahr in den des Ertrags ihrer Felder und Wiesen, Baumgüter und Weinberge beraubten Gemeinden sich einstellen. Nach amtlicher Schätzung beträgt der Gesamtschaden ungefähr 18 Millionen Mark! Dem Umstand, daß das Unwetter mitten in der Nacht ausbrach, ist es zu danken, daß die Zahl der umgekommenen Menschen nur gering ist. Wie groß jedoch die Gefahr war, zeigen die aufgefundenen Hunderte von erschlagenen Hasen. Leute, die rasch noch die Läden ihrer Häuser schließen wollten, erlitten an Kopf und Armen zum Teil ziemlich bedeutende Verletzungen. Der Jammer der Bauern, als sie am Morgen nach der Schreckensnacht die Getreideernte vernichtet, den Weinstock auf Jahre hinaus zerstört, die vielen, seit Jahrzehnten gepflegten Obstbäume geknickt oder entwurzelt sahen, läßt sich nicht beschreiben. Da seit Menschengedenken in den meisten Gemeinden dieser Gegend kein Hagelwetter vorgekommen war, hatten nur wenige Bauern ihre Ernte versichert.
Zur Linderung der Not ist in Württemberg selbst sogleich Bedeutendes geleistet worden. So viel aber auch bereits geschehen ist, so thut doch noch immer Hilfe, ausgiebige Hilfe, dringend not. Möchten auch die Leser der „Gartenlaube“ dem Notschrei der Bedrängten Gehör schenken und nach Kräften zur Linderung der großen Not
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 531. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_531.jpg&oldid=- (Version vom 4.7.2023)