Verschiedene: Die Gartenlaube (1897) | |
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Augen betrachtete er die zierlichen aber kräftigen Buchstaben der Aufschrift, sie begannen sich aber allmählich zu verwirren. Er ließ die Hand mit der Schachtel sinken und schloß die Finger fester darum her. Zu fest. Sie knackte und brach ein. Erschrocken, vor sich selber beschämt, wickelte er das Ganze, wie es war, in ein Papier und verschloß es sorgfältig.
Er ging dann eine Weile ziellos im Zimmer auf und ab, blieb am Fenster stehen und starrte, die heiße Stirn an die Scheibe gelehnt, in die Nacht hinaus. Es that ihm aber nicht gut, es wurde ihm nicht besser davon zu Mut. Aus dem Dunkel sahen ihn Hannas Augen an. In der tiefen Stille hörte er ihre Stimme sprechen, zu ihm sprechen. Liebe, gute Worte, zärtliche Worte. Und ihr unschuldiger, junger Mund blühte ihm entgegen.
Mit einem schweren Seufzer löste sich Rettenbacher von seinem Platz und wandte sich langsam von dem unheilvoll flüsternden Dunkel da draußen zu dem sanften, ganz unromantischen Schein seiner Studierlampe zu seinem Schreibtisch, zu seiner Arbeit, die nicht länger warten durfte, die ein Recht auf ihn hatte, die allein ein Recht auf ihn hatte. Er starrte noch mit den geblendeten, aus verbotenem Traumland heimkehrenden Augen auf die weißen Blätter, die da neben dem Buch bereit lagen – und ließ sich dann müde in den hochlehnigen, breiten Stuhl niedersinken. Er zog das Buch heran, den englischen Roman, den er übersetzte – seine Sonntagsarbeit, zu der er immer in der Nacht vorher die vorbereitenden Studien machte, um dann sein Kapitel hintereinander niederschreiben zu können. Eine leidlich gut bezahlte Sonntagsarbeit, die ihm schon manchen notwendigen Ertraggroschen eingetragen hatte und die er dem von seinem Schuldirektor ermöglichte halbjährigen Aufenthalt in England verdankte. Er raffte sich zusammen. Er las, machte Anmerkungen, las weiter. Die Gewohnheit forderte ihr Recht. Das Pflichtbewußtsein nahm ihn am Zügel. Die heiße Stirn begann sich zu kühlen, die tiefe, schmerzliche Falte zwischen den Augenbrauen glättete sich.
So verrann die Zeit. Langsam? Schnell? Wer weiß es? Weder der rechte Träumer noch der rechte Arbeiter.
Plötzlich zuckte Rettenbacher zusammen und fuhr von seinem Stuhle auf. Nebenan weinte jemand, ganz leise.
Hanna! Wer denn sonst? Sie war da drinnen, noch auf, so spät – wie spät denn? Fast Zwei. Und sie weinte. Was war ihr geschehen? Er lauschte regungslos.
Alles still jetzt. Das Schluchzen verstummt. Mit seinem scharfen Ohr hätte er es sonst leicht vernommen. Es war ja eine Thür zwischen den Zimmern, wenn auch zugestellt, drinnen mit dem Bücherschrank, hier die Nische davor, in der sein Waschtisch stand, mit Wollstoff ausgekleidet. Aber alles totenstill. Er drückte sich die Faust auf das wieder heftig schlagende Herz. Hinübergehen. Sie fragen, trösten.
Aber er blieb flehen, er rührte sich nicht vom Fleck, schüttelte nur mit einem schwachen, rasch verfliegenden Lächeln den Kopf. Noch war er ja nicht verrückt. Noch hatte er ja seine Gedanken beisammen. Er wußte genau, was er thun würde, wenn er jetzt hineinginge zu ihr, die da allein saß und weinte. Er würde es nicht zuwege bringen, fein höflich zu fragen: „Was fehlt Ihnen, liebes Fräulein? Kann ich Ihnen helfen? Befehlen Sie über mich! – Er würde ihr seine arme Seele vor die Füße legen, er würde ihre Hände küssen, die blassen, vielgeliebten, er würde sein streng bewahrtes Geheimnis verraten, er würde ein Narr werden und kein ehrenhafter Narr. Helfen? Er? Wobei? Und womit? Daß Gott erbarm! O nein, noch hatte er seine Gedanken beisammen.
Er lauschte wieder angestrengt. Alles still.
Er wußte nicht, daß ihm das weinende Mädchen da drinnen, dem das Herz so bänglich schlug, in seiner einsamen Not vielleicht wortlos in die Arme gesunken wäre, wenn er plötzlich in der Thür gestanden und gefragt hätte: „Was ist geschehen? Er wußte nicht, wie arg bedroht seine Ehrenhaftigkeit gewesen war.
Er hörte jetzt deutlich, da er mit Anspannung aller Sinne lauschte, daß sie durch das Zimmer und auf den Vorplatz hinaus schlich, daß das Lämpchen klirrte. Er hörte das leise, leise Knarren ihrer Thür – und dann nur noch die tiefe Stille, die folgte, und die mit ihren langsamen, breiten Wellen dahergezogen kam und alles andere verschlang.
„Sag’du es ihm,“ bat Hanna, nachdem sie übereingekommen waren, daß man Rettenbacher sofort Mitteilung von der Veränderung ihrer Lage machen müsse. Sie saßen am Frühstückstisch. Er konnte jeden Augenblick hereinkommen.
„Gewiß, natürlich,“ antwortete Frau Wasenius beklommen. „Aber du bleibst doch im Zimmer, du hilfst doch bei der Besprechung, wenn ich angefangen habe, du lässest mich doch nicht im Stich?“
„Nein, mein Engel, ich lasse dich nicht im Stich.“ Hanna küßte die Hand der Mutter. „Beunruhige dich nicht. Wir besprechen das alles gemeinsam. Nur den allerersten Anfang, die Einleitung, weißt du –.“ Sie sah nach dieser schlimmen Nacht sehr blaß aus. Aber in ihrer Fürsorge für die Mutter hatte sie sich genug in der Gewalt, um gleichmütig zu erscheinen. Nur vor diesem Anfang graute ihr, vor dieser ersten Mitteilung an Rettenbacher: wir müssen uns trennen!
Rettenbacher trat ein. Auch überwacht, auch hohläugig, auch gefaßt. Aber ein schneller, falkenscharfer Blick traf die Gestalt des Mädchens, das ihm freundlich, wie immer, den Morgengruß zunickte. Er sah wohl ihre Blässe, die von einem jähen, aber nur flüchtigen Erröten übergossen wurde, sah ihre dunkler und größer gewordenen Augen und fühlte wieder die halszuschnürende Angst; was ist ihr geschehen?
Fast vergaß er, höflich, wie er gewohnt war, zu grüßen. Und am Tisch niedersitzend, seine gefüllte Tasse aus Hannas Hand entgegennehmend, warf er mit heiserer Stimme irgend eine gleichgültige Bemerkung hin, nur um zu sprechen nur um die Beherrschung nicht zu verlieren. Aus einem tieferen Stummsein wäre er doch mit der Frage aufgefahren: Was ist Ihnen geschehen?
„Lieber Rettenbacher“ – sagte Frau Wasenius leise.
„So,“ dachte er, „jetzt kommt’s. Was ist das für ein Ton?“ Argwöhnisch sah er sie an. Er hatte sie in der Sorge um das Mädchen noch gar nicht betrachtet. Sie zitterte ja.
„Bitte?“ sagte er so ruhig wie möglich.
„Es ist – wir müssen Ihnen etwas erzählen – es ist etwas geschehen – das heißt, die Hauptsache ist: wir müssen uns trennen.“
Er antwortete nicht gleich, er lehnte sich etwas zurück, den Griff des Messers, mit dem er eben das Brötchen durchgeschnitten hatte, in der festgeballten Faust, und starrte sie an. Aus seinem Gesicht war alle Farbe weg. „Bitte –“ wiederholte er dann mechanisch. „Und warum?“ brachte er noch heraus.
„Wir haben Unglück gehabt,“ fing Frau Wasenius wieder mühsam an. „Ich glaube, ich habe Ihnen schon früher einmal gesagt, daß die Hälfte meines Einkommens in einer kleinen Rente aus schlesischen Fabrikaktien besteht. Ich habe diese Aktien vor Jahren von meinem verstorbenen Bruder geerbt. Diese Rente ermöglichte es uns, hier wohnen zu bleiben, auch nach dem Tode meines Mannes, obwohl wir uns sehr zusammennehmen mußten. Nun ist das aber –“ sie machte eine hilflose Bewegung mit der Hand und brach ab.
Hanna, die bisher mit aufgestütztem Kopf still vor sich hingeschaut hatte, streichelte diese arme Hand und hielt sie dann fest.
„Also das Kurze und Lange von der Sache ist,“ sagte sie nun, indem sie tapfer das schmähliche innere Zittern bekämpfte und den Blick zu Rettenbachers starrem Gesicht erhob, „daß diese Fabrik hin ist, ruiniert ist, falliert hat. Außer den Prioritätsaktien, von denen wir keine haben, sind alle Papiere wertlos. Unser Einkommen hat sich also auf die Hälfte verringert, und wir müssen unser Leben danach einrichten. Das heißt, wir müssen diese Wohnung aufgeben, überhaupt Berlin aufgeben. Soweit bis jetzt – seit gestern abend – eine Ueberlegung möglich war, scheint es uns am besten, in irgend einen billigen, recht billigen Vorort zu ziehen, sozusagen aufs Land, je weiter hinaus, also je wohlfeiler, desto besser.“
Sie hatte ganz ruhig gesprochen anfangs noch mit etwas schwankender Stimme, aber sie fühlte doch, es ging. Da Rettenbacher, anstatt sie anzusehen, regungslos auf seinen Teller starrte, wuchs ihr der Mut.
„Wir sind übereingekommen,“ fuhr sie dann fort, „Ihnen gleich von unserem Mißgeschick zu erzählen. Denn hoffentlich
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 536. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_536.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)