Verschiedene: Die Gartenlaube (1897) | |
|
Seit Menschengedenken ist das deutsche Land nicht von einer ähnlichen Fülle des Unheils infolge von Wasserkatastrophen heimgesucht worden, wie in den letzten Juli- und ersten Augusttagen dieses Jahres! Die Nachrichten überstürzten sich, aus Sachsen, Schlesien, Anhalt, der Mark, aus Böhmen, Nieder- und Oberösterreich, dem Salzkammergut, aus Salzburg und Steiermark, aus dem bayrischen Berchtesgaden drangen die erschütternden Meldungen auf uns ein, und von überallher hatten sie nicht nur unermeßliche Verluste an Hab und Gut in Stadt und Land, die Zerstörung von ungezählten Häusern, Brücken, Kulturanlagen aller Art, sondern auch den Verlust von zahlreichen Menschenleben zu berichten. Die Gleichzeitigkeit dieser ganz gleichartigen Heimsuchungen in weit auseinanderliegenden Gegenden, das grausenerregende Nebeneinander von verwüsteten weiten Landstrichen, welche jetzt unser Mitleid, unsere helfende Teilnahme fordern, die ins Riesenhafte angewachsene Summe von Verlusten, die auch das umfassendste Hilfswerk nur lindern, aber nicht ersetzen kann, sie geben diesen Wasserkatastrophen den Charakter eines nationalen Unglücks, das überall mitempfunden und überall auch mitgetragen wird! Noch sind die Sammlungen zur Abhilfe des großen, von uns schon besprochenen Notstandes der durch Hagel Beschädigten in Württemberg und Elsaß-Lothringen im Gange, da nimmt diese noch weit umfassendere Heimsuchung mit zwingender Gewalt die öffentliche Mildthätigkeit in Anspruch. Und gerade in der Zeit der Ernte mußte sie über uns hereinbrechen! Schon standen allenthalben die Garben des gold’nen Korns auf den Feldern und der Landmann sah schon im Geiste die reichliche Mahd in sicherer Scheuer geborgen, da bricht das Unheil über das Land…. „Der Damm zerreißt, das Feld erbraust, die Fluten spülen, die Fläche saust! Die angeschwollenen Ströme überschwemmen Felder um Felder und nehmen die reifen Garben, die Frucht unsäglicher Müh’ und Arbeit, mit sich fort. Und die Wogen fluten weiter über die Dämme der Straßen und Eisenbahnen und zerstören die sicheren Geleise des Verkehrs für Handel und Wandel! Sie dringen ein in die Dörfer und Städte und vernichten die Wohn- und die Arbeitsstätte vieler Tausende von Menschen, sie reißen aus dem Kreise der Seinen den Vater und Erhalter in die Fluten und spotten der weinenden Witwen und Waisen!“
Noch füllen, während wir dies schreiben, die Spalten der Tagesblätter fortgesetzt neue Berichte aus den heimgesuchten Gegenden mit einem Wirrsal von erschrecklichen Einzelheiten. Wir müssen darauf verzichten, alle die vielen einzelnen Orte aufzuzählen, welche in Wassersnot gerieten, und müssen uns genügen lassen, hier den Umfang und den Verlauf in große Zügen nur zu skizzieren. Da läßt sich bei all den Einzelkatastrophen denn feststellen, daß, so weit ihre Wirkungsgebiete auseinanderliegen und wie verschieden ihr Verlauf war, sie alle doch durch die gleiche Ursache veranlaßt wurden: durch lang andauernden wolkenbruchartigen Regen, welcher Flüsse und Bäche jählings anschwellen ließ. Diese Art der Ueberschwemmungen ist wegen der heimtückischen Plötzlichkeit ihres Ausbruchs und der rasenden Schnelligkeit ihrer Entwicklung viel gefährlicher als die Hochfluten, welche alljahrs im Frühling die Schneeschmelze in den Gebirgen herbeiführt. Und ihre Gefährlichkeit nimmt den höchsten Grad an, wenn diese jähen Regengüsse in dem Quellgebiete von Flüssen erfolgen, die mit starkem Gefälle und durch enge felsige Schluchten ihren Weg zu den Menschenstätten suchen. Als vor zwei Jahren ein solcher Wolkenbruch die furchtbare Katastrophe im württembergischen Eyachthal herbeiführte, hat die „Gartenlaube“ das Wesen dieser elementaren Gewaltausbrüche näher geschildert (vergl. Jahrgang 1895, S. 466). Diesmal ist nicht nur ein einzelnes kleines Gebirgsthal, sondern es sind gleich große Teile des Königreichs Sachsen, von Preußisch-Schlesien, Oesterreichisch-Schlesien und von Böhmen, sowie der weiteren obengenannten österreichischen Kronländer von solchen anhaltenden Wolkenbrüchen heimgesucht worden. Und fast überall läßt sich das Quellgebiet der großen und kleinen Flüsse, die zur Hochflut anschwollen, als Ursprungsstätte erkennen! Dort, wo Sachsen, Schlesien und Böhmen zusammenstoßen, befinden sich nicht nur die Quellen der kräftigen Oderzuflüsse, welche Schlesien, aber auch Teile von Sachsen und Böhmen verheert haben, sondern auch der Ursprung der Elbe, die in Böhmen und Sachsen so schrecklich gewütet hat, während viele ihrer Nebenflüsse auf gleiche Weise zur Ueberflutung gebracht wurden. Bei und in Wien hat der sonst unbedeutende Wienfluß, der vom Wiener Wald kommt und gerade Gegenstand umfassender Regulierungsarbeiten war, durch einen drei Tage anhaltenden Regenguß seine verheerende Gewalt erlangt, und in den österreichischen Alpen sind Traun und Enns nebst vielen andern Zuflüssen der Donau durch gleiche Ursache zu jenen Hochfluten angeschwollen, welche Eisenbahndämme brachen, Tunnel zum Einsturz brachten, unzählige Brücken niederrissen, den Gmundner See und andre Salzkammergutseen aus ihren Ufern emportrieben und Ischl, den Aufenthalt des Kaisers von Oesterreich, auf Tage isolierten. Aus der Aufeinanderfolge der Hiobsposten am 30., 31. Juli, am 1., 2. August ließ sich meist klar erkennen, wie die aus dem Gebirge stammende Hochflutwelle bis zum Mittellauf der Flüsse in der Ebene vordrang, so z. B. aus der Görlitzer Neiße, die nach ihrem Zerstörungswerk in Böhmen, Sachsen und Schlesien mit vernichtender Wucht diese Flutwelle bis in die Mark, nach Forst und Guben, sandte.
Als ein Hauptherd der Ueberschwemmungen, welche reichsdeutsches Ländergebiet heimgesucht haben, läßt sich unter diesem Gesichtspunkt das Riesengebirge mit dem ihm vorgelagerte Lausitzer und Glatzer Bergland erkennen. Ueber den panikartigen Ausbruch der Wassersnot in den Thälern des Bober, des Queis, des Zacken u.s.w., der Elbe und der Aupa haben die Tagesblätter besonders ausführlich berichten können auf Grund von Briefen, welche Sommerfrischler in Hirschberg, Schmiedeberg, Krummhübel, Warmbrunn, Hain, Johannesbad, Spindelmühle unter dem Eindruck der furchtbare Vorgänge in die Heimat schrieben. Die Katastrophe erfolgte vielfach mitten in der Nacht. In der Finsternis mußten die Bewohner der Häuser, in deren Keller und ersten Stockwerken sich die Flut mit rasender Wucht ergoß, versuchen, sich und ihre Habe zu retten. Daher die erschreckend vielen Verluste von Menschenleben! Trotzdem, daß überall sehr bald Militär und die Feuerwehr aufgeboten war, um beim Rettungswerke zu helfen, und die wackeren Mannschaften darin ihr möglichstes thaten, haben viele Personen, die sich auf Dächer oder Bäume geflüchtet hatten, wenn überhaupt, erst nach langem verzweiflungsvollen Harren ihre Rettung finden können. In Hirschberg, das so lieblich im Thale des Bober gelegen ist, mußten die Bewohner eines Hauses, die sich durch das Dach auf einen Baum gerettet hatten, sich volle 18 Stunden auf diesem aushalten. Die Frau eines Arbeiters, der auf einem Fensterbrett Halt gefunden hatte, klammerte sich volle 16 Stunden an das Querholz eines Fensterkreuzes. Beide befanden sich die ganze Zeit über bis an die Brust im Wasser und sahen schon ihren Tod vor Augen, weil das Wasser nur noch zwei Fuß bis zur Stubendecke zu steigen hatte. In anderen Häusern hatten sich die Bewohner auf das Dach geflüchtet und schrieen von dort um Hilfe oder winkten mit weißen Tüchern, ihnen doch beizustehen. Leider war das bei der reißenden Flut nicht möglich. Jeder Kahn wäre sicher zerschellt. In der höchsten Not nahm dann ein Kommando des Jägerbatallions seinen Weg über die Straupitzer Eisenbahnbrücke, um so den Bedrängten zu Hilfe zu kommen. Man bediente sich eines Floßes, allen voran war der Jäger Dunkel. Er brachte vier Kinder, darunter eins von vierzehn Tagen, sowie die Mutter unversehrt aus dem ersten dieser Häuser. Bei dem letzten Versuch, auch den Vater herüberzuholen, ertrank er. Er ist hinübergegangen in die verklärte Schar jener, zu deren Preise Bürgers „Lied vom braven Mann“ immer wieder in der Volksseele aufklingt, wenn die Chronik der Unglücksfälle Thaten solchen Heldentums verzeichnet. Doch nicht nur diesen einen hat die Geschichte dieser Schreckenstage zu verzeichnen. Beim Rettungswerk in Sprottau stürzten vier Männer in die Fluten. Zwei gingen sofort unter, während die beiden andern sich an Bäumen festzuklammern vermochten. Der eine, Bauführer Schulz, mußte ohne jede Nahrung 21 Stunden in dieser verzweifelten Lage ausharren, ehe seine Rettung gelang. Bei den wiederholten Versuchen, diese beiden Männer zu retten,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 571. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_571.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2019)