Verschiedene: Die Gartenlaube (1897) | |
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„Wo fehlt’s denn?“ fragte Ambrosius, der wie auf Kohlen stand. „Immer die alte Geschichte?“
„Ach, schlimmer als das! Seid Ihr denn nicht überrascht, daß Ihr mich zu so taufrüher Morgenstunde in freier Gemarkung trefft? Noch dazu mit diesem baumstarken Begleiter dort? Das machen die gräßlichen Nachtstimmen, die mich jetzt keine Minute mehr schlafen lassen. Und geh’ ich allein, dann setz’ ich mich einer gräßlichen Katastrophe aus. Gestern bei meinem Frühgang bin ich zusammengestürzt und hab’ dagelegen wie tot, bis mich zwei Gusecker Fronbauern heimtrugen. Drum begleitet mich jetzt der Stadtknecht.“
„Das sind schlimme Geschichten“, versetzte Ambrosius.
„Ja, und wißt Ihr, was mich am meisten aufregt? Mehr noch als die abscheulichen Nachtstimmen? Das rätselhafte Gefühl, als bestünd’ ich im Grunde aus zwei Personen, als liefe da unsichtbar neben mir ein anderer Doktor Xylander von ganz der gleichen Natur wie ich selbst. Seit vorgestern abend sucht mich diese Empfindung heim, und ich kann sie nicht los werden. Bald stärker, bald schwächer – aber sie weicht nicht. Deshalb dacht’ ich an Euch. Helft mir, eh’ diese Not unheilbar wird!“
Den jungen Arzt überlief ein Frostschauer. Kein Zweifel, der Ausbruch des hellen Irrsinns war bei Doktor Xylander nur eine Frage der Zeit! Und dieser Mann mit dem halb schon wutkranken Gehirn entschied über das Schicksal so vieler Hunderte! Im stolzen Bewußtsein erfüllter Pflicht verhängte er Qualen und Feuertod! Auch über die schuldlose Hildegard sollte er demnächst zu Gericht sitzen! Doktor Ambrosius unterdrückte, was ihm so fürchterlich an die Seele griff. Es drängte ihn vorwärts. Er verlor hier im Zwiegespräch mit Adam Xylander uneinbringlich kostbare Minuten.
„Wenn Ihr erlaubt,“ sagte er teilnehmend, „werd’ ich noch heute in Eurer Wohnung vorsprechen. Etwa um Zwei. Jetzt aber entschuldigt, Herr Stadtrichter! Mein Beruf ist tyrannisch.“
„Halt!“ rief Adam Xylander und faßte den Arzt unvermutet beim Rockärmel. „Wie seht Ihr denn aus? Euer Gewand ist ja weiß wie ein Müllerschurz! Alles voll Kalk – zumal an den Knieen! Als wäret Ihr wo übergeklettert! Niedemann, kommt rasch einmal her!“ Er winkte dem Rutenknecht.
Doktor Ambrosius hatte bei den Worten des Malefikantenrichters und mehr noch bei dem Herannahen des vierschrötigen Kerls ein unheimliches, tiefbanges Gefühl. Er witterte Unheil. Xylander hatte vielleicht Komödie gespielt, der Bursche da war doch einer von den Verfolgern und hatte den Flüchtling ungesehn überholt. Ambrosius war ja nicht sonderlich schnell gegangen.
„Was habt Ihr nur?“ lächelte Adam Xylander, als er bemerkte, wie eigentümlich verwirrt Doktor Ambrosius dreinschaute. „Man sollte fast meinen, Ihr wäret in Wirklichkeit wo übergeklettert … Vielleicht auf nachtverschleierten Wegen der Liebe? Ei, ei, Herr Doktor, was muß die Menschheit an Euch erleben!“
Der junge Arzt wußte noch immer nicht recht, wie er dran war. Diese Scherzworte im Munde des öden, freudlosen Mannes klangen so unnatürlich! Schon überlegte Ambrosius, ob er nicht eilends entfliehen und den Häscher, wenn der ihm nachrannte, mit einem wohlgezielten Dolchstich bewillkommnen sollte. Da sah er die stumpfe Gleichgültigkeit in den Mienen des Knechtes und die unterwürfige Dienstwilligkeit seines Heranschreitens. Er gab also dem Malefikantenrichter in lateinischer Sprache eine ebenso scherzhafte Antwort, schob die Sache auf einen Zusammenprall mit einer schmutzigen Feldkarre und schwatzte noch mancherlei krauses Zeug, während der Knecht sich mühte, ihm von den Aermeln und Kniehosen mit breitklatschender Hand den Staub wegzuklopfen. Dann reichte Ambrosius dem gefälligen Burschen ein Kupferstück, dankte und entfernte sich rasch.
Adam Xylander, von plötzlicher Mattheit ergriffen, hängte sich bei dem Rutenknecht ein. „Auch das werd’ ich noch aufgeben müssen!“ stöhnte er, nach der Stirn greifend. „Gestern hat mir der Gang wohlgethan; heute bringt er mich um.“
Und die bartlosen Kiefer schlugen ihm dumpf widereinander.
Kaum hatte Doktor Ambrosius den Wald betreten, als er zu laufen anhub, was ihn die Beine trugen. Wenn es der Zufall wollte, konnte die Nachricht von dieser Landstraßenbegegnung mit Xylander in kaum dreiviertel Stunden den Zentgrafen erreicht haben. Dann konnte man dem Entflohenen bei kluger Berechnung noch immer den Weg über die Dernburgsche Grenze abschneiden.
Zu seinem großen Glück traf Ambrosius in Königslautern den rothaarigen Hauptmann Fridolin Geißmar, der hier seit mehreren Tagen verweilte, um eine kleine unerwartete Erbschaft flüssig zu machen. Fridolin Geißmar wohnte bei einem alten, bärbeißigen Förster, der gleich ihm ein geschworener Todfeind der Blutrichter war. Doktor Ambrosius kam just von der Nordseite her ins Dorf, als die zwei Männer, von ihren lautkläffenden kurzbeinigen Hunden begleitet, zur Fuchsjagd aufbrachen. Sie begegneten ihm bei der schindelgedeckten Kirche. Im Augenblick war alles erzählt – halblaut, mit vorsichtig scheuen Andeutungen. Der Förster besaß einen gutgehenden sechsjährigen Schimmel, den er dem jungen Arzt sofort zur Verfügung stellte. Die Sache ward aus Gründen der Klugheit in die Form eines Kaufs gekleidet. Der Förster quittierte in Gegenwart seiner zwei Gehilfen über den ganzen Betrag, obwohl Doktor Ambrosius thatsächlich keinen Pfennig bezahlte. Er hatte an barem Geld nur eben das Notwendigste bei sich.
„Gebt mir sofort Nachricht, wenn Ihr in Dernburg angelangt seid,“ bat Fridolin Geißmar, als sich der Flüchtling hinter dem Forsthausgarten leicht in den Sattel schwang.
„Unverzüglich!“ sagte Ambrosius.
Er hob sein Barett, nickte noch einmal dem rothaarigen Hauptmann zu und sprengte dann spornstreichs über den holprigen Feldweg.
Noch lange vor Mittag erreichte er wohlbehalten die Residenz des Fürsten Maximilian, wo er gleich hinter dem Rolandsthor im Gasthof „Zum Einhorn“ abstieg.
Der Wirt wunderte sich, daß ein so vornehm aussehender Herr ohne Gepäck reiste, wagte jedoch keine Bemerkung. Diensteifrig befahl er dem Hausknecht, das dampfende Pferd des Ankömmlings in den Stall zu führen, während er selber dem Gast voranschritt und ihm ein freundliches Zimmer nach der Münzgasse anwies. Doktor Ambrosius reinigte sich vom Staub, ruhte ein wenig und ließ sich Speise und Trank vorsetzen, da er seit gestern mittag kaum was genossen hatte. Dann machte er sich voll Ungeduld auf den Weg zu Herrn Theodor Welcker, dem staats- und weltklugen Teilnehmer an der Glaustädter Verschwörung.
Doktor Ambrosius ahnte nicht, daß es vorwiegend politische Pläne waren, die Herrn Theodor Welcker im Interesse des höchst begabten, aber auch höchst ehrgeizigen Fürsten von Dernburg an die Verschwörung knüpften. Er sah in dem würdigen, langbärtigen Herrn, der ihn mit warmherzigster Güte empfing, nur den begeisterten Vorkämpfer der Freiheit, nicht den fernblickenden Staatsmann, der vor Jahren bereits behauptet hatte, die Zuteilung Glaustädts an den Landgrafen von Lich sei auf Grund eines rechtlichen und historischen Irrtums erfolgt, und der nun im stillen bestrebt war, diesen unleidlichen Fehlgriff durch kluge Benutzung der in Glaustädt herrschenden Mißstimmung gut zu machen. Uebrigens war ja auch die Erbitterung Theodor Welckers gegen das schmachvolle Unwesen des Balthasar Noß durchaus nicht erheuchelt, ebensowenig wie die rein menschliche Teilnahme des vortrefflichen Herrn an dem trüben Geschick Hildegards und ihres heimliche Anverlobten.
Für heut’ erklärte sich Herr Theodor Welcker zu seinem Leidwesen verhindert, mit Doktor Ambrosius eingehend zu verhandeln. Morgen jedoch mit dem Frühesten solle der junge Arzt wiederkommen. Herr Theodor Welcker wolle dann noch zwei andere Dernburger Mitverschworene zur Besprechung heranziehen. Er sei zwar ein alter Herr und über die Stürme des Herzens schon seit Jahrzehnten hinaus, doch begreife er vollständig, daß Herr Doktor Ambrosius in seiner furchtbaren Lage mehr noch an die Errettung Hildegards denke als an die seiner Vaterstadt. Gegenstand der geheimen Erörterung solle die Frage sein, ob man mit Gottes Hilfe nicht etwa beides vereinigen könne.
Balthasar Noß schäumte vor Wut darüben, daß ihm Doktor Ambrosius entschlüpft war. Keine Marter war in seinen Augen grausam genug zur Züchtigung dieses verruchten Gewaltmenschen
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 578. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_578.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)