Verschiedene: Die Gartenlaube (1897) | |
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auch, ob der große Kulturfortschritt der Menschheit einen ebenso großen Glückszuwachs brachte, er zeigt die Bedeutung des „Einzelnen in der Masse“, der „Phantasie als sozialer Macht“ und entwickelt bei allen diesen Ausführungen so viel überraschende und fesselnde Gesichtspunkte, daß der Zuhörer die scheinbar bekannten Stoffe von ganz neuer Seite sieht. Jeder fühlt, daß hier ein Dichter mit dem Rüstzeug des Gelehrten arbeitet, einer, der das, was alle sehen können, mit besonderen Augen sieht und es deshalb als etwas ganz Neues darzustellen vermag. Ob Haushofer über „Luxus“, „Ehefragen“, „Reichtum und Glück“ spricht, ob er dem deutschen „Spießbürger“ und „Philister“ die verdiente Charakteristik angedeihen läßt, oder das „Dilettantentum“ im Gegensatz zur Kunstleistung auf seine Merkmale untersucht, ob er die Gefahren der Cliquenherrschaft erwägt, gewerbliche oder kaufmännische Interessen bespricht, oder in einem gedankenreichen Vortrag über „Frauenkonkurrenz und Heiratsfreguenz“ den Stand der gesamten Frauenfrage mit ebenso parteilosem als weitschauendem Blick behandelt, – immer hört man die Stimme des überlegenen Menschengeistes, des warmherzigen Philosophen und Patrioten. In all seinen Vorträgen offenbart sich bei aller Fülle realen Wissens, das er entfaltet, eine hohe ideale Gesinnung. Die nachstehenden Schlußsätze aus der auch gedruckt erschienenen Abhandlung „Die Arbeit im Lichte der Volkspoesie“ sind für diese Gesinnung bezeichnend. „In jedem Menschen muß, wenn er Freude am Leben behalten soll, ein Schatz von Idealen sein, der ihn tröstet und erhebt, wenn er arbeitsmüde Haupt und Hand sinken läßt. Diese Ideale sind aber nicht Austern und Champagner … Es kann dem Arbeiter nicht oft genug gesagt werden, daß unter allen Genüssen, deren sich der hochgebildete Mensch erfreut, ihm jene die liebsten sind, welche auch dem Armen erreichbar sind. Die Freude an der Natur, die Freude am Umgang mit gleichgesinnten Menschen, der Anteil am Geistesleben der Nation, das Bewußtsein redlicher Pflichterfüllung und die Liebe und Treue der Seinigen. Darin liegt die Poesie des Daseins. Und während der Arbeit entflieht sie nicht vom Menschen, sondern sie verstummt bloß und schaut ihm lächelnd über die Schulter, bis er wieder rasten darf. –
Es ist Rückerinnerung an die eigene erste Arbeitsepoche, die aus diesen Worten des gereiften Mannes spricht. Denn von eigentlich poetischen Leistungen, die einem 1867 erschienenen Bändchen teilweise sehr schöner Gedichte etwa hätten nachfolgen sollen, war weit über ein Jahrzehnt nach Haushofers Amtsantritt keine Rede. Erst 1886 erhielt die Welt durch das große Werk „Der ewige Jude“ den Beweis, daß die Poesie die unzertrennliche Begleiterin seines Lebensweges geblieben war.
Diese dramatische Trilogie, die Frucht langer Jahre, erregte sofort beim Erscheinen großes Aufsehen und sicherte ihrem Autor einen hervorragenden Platz in unserer Litteratur. Nach seinem eigenen Ausspruch enthält dies Werk seine besten Gedanken.
„Das Höchste ist’s, was ich darin erstrebe,
Was ich in langen Jahren still ersann,
Das Beste, was ich innerlich erlebe!
Dem Knaben träumte schon, was jetzt der Mann
An manchem Sonnentag und auch in Wettern
Zur Frucht ausreifen ließ auf diesen Blättern.“
Seine Auffassung vom Schicksal und vom Charakter Ahasvers ist wahrhaft genial:
„Ich sehe den Unsterblichkeitsgedanken
Verkörpert durch die Weltgeschichte schwanken
Als geisterhaften Greis, Erlösung suchend,
Mit glüh’ndem Blick sich und die Welt verfluchend.
Ein Götterschicksal ist’s, in Staub gekleidet,
Bewundert und beklagt, verwünscht, beneidet.“ –
Tief ergreifend ist diese magische Figur in den Mittelpunkt der Handlung gestellt, die ewige Todessehnsucht zwischen der Ueberfülle menschlichen Ringens und Wünschens, mit welchem ihn nur noch der Anteil am Schicksal ferner Urenkel zeitweise verknüpft.
In gewaltigem Zug beschwört der Dichter seine Gestalten herauf, von den altgermanischen und römischen Kriegern, den Waldgeistern und Zwergen an, durch die mittelalterliche Alchimistenklause und Kaiserpfalz führt er uns bis zur modernen Großstadt mit allen ihren sozialen Problemen. Der finstere müde Ahasverus durchschreitet die Jahrhunderte und sieht sich stets neu in das Spiel des Lebens verstrickt, oft auch steht er dem gleichfalls in wechselnder Gestalt auftretenden Thanatos (Tod) gegenüber, dem glühend Gehaßten, der ihn allein verschont und seinen flehentlichen Bitten höhnisch antwortet:
„So alt – und solch ein Kind! Nicht dich!
Du weißt, warum. Ich töte fort und fort.
Ich würge Kind und Greis von Ort zu Ort,
Doch einmal gönn’ ich allen Ruh.
Ich nehme alle bis auf Einen. Der,
Unseliger Wanderer, bist du!
Drum lebe, lebe, Ahasver! …“
Die wunderbar phantastischen Scenen, wo dieser bleiche Arzt Thanatos zu Nacht in der Kapelle den Toten predigt und jeder Absatz seiner gewaltigen Seelenverkündigung mit einem langhallenden geisterhaften „Amen“ beantwortet wird, gehören zum Großartigsten der an Schönheiten so reichen Dichtung.
Es liegt in der Natur des weltweiten Stoffes, daß hier kein Drama im gewöhnlichen Sinne entstehen konnte. Nicht das einzelne Menschenschicksal, sondern das Schicksal der Menschheit ist der Gegenstand dieser mit schöpfungsfreudiger Phantasie und großer dichterischer Kraft geschaffenen Bilder. Zum Schlusse bringt ein phantastisch theatralisches Maskenspiel auf einem großen Künstlerball den „letzten Menschen“ und sein Ende. Die „Phantasie öffnet den Blick auch darüber noch hinaus in die ewige Neuverjüngung alles Geschaffenen, und zum Schlusse webt sich das Schicksal der ganz modernen Menschen mit den uralten Zaubermächten noch zu einer geheimnisvoll ausklingenden Harmonie zusammen.
Ebenso wie der „Ewige Jude“ wurden die 1888 erschienenen „Geschichten zwischen Diesseits und Jenseits“ von den berufensten deutschen Kritikern mit großem Beifall begrüßt. Dies Buch wendet sich, in das Gewand glänzendster Prosa gekleidet, den Nachtseiten des menschlichen Lebens zu.
Wie wahr sind vergängliche Thaten und – Sünden des Lebens in den „Verlassenschaften“ geschildert! „Die Ziffern der Verzweiflung“, die „Hypothek des Schwarzen“, die grausige, in Tirol spielende Geschichte „Verschollen“, „Ein Spaziergang unter Schatten“, namentlich aber die rührende Erzählung vom kleinen Dulder Paul, „Das Ungelebte“ betitelt, sind markerschütternd. Erfreulichere Bilder zeigen uns die von Romantik umwobene Erzählung „Kometenflug“ und „Bauernstube“, der Sehnsucht atmende „Brief an das Glück“ und die humorvolle Episode „Unter Mumien“.
1890 erschien das erzählende Gedicht „Die Verbannten“. Was Haushofer mit dem Titel dieses Buches gemeint, sagt er in der Vorrede. „Verbannt!“ Welche fühlende Seele hat nicht schon Stunden gehabt, in denen sie ein Heimweh verspürte nach einer großen, fernen Welt, nach einer Welt, gegenüber welcher irdische Ziele und Freuden nichts sind als flüchtiges Possenspiel? Wer in solchen Stunden nach den schweigenden Lichtern der Sternennacht oder nach dem sinkenden Golde der Abendsonne geschaut hat, in dem mag wohl ab und zu ein ahnendes Empfinden aufgedämmert sein, als sei er nur ein Wanderer, der seine Heimat nicht finden kann. Seit undenklich langen Zeiten ist er aus jener Heimat verbannt, um sich durch dunkle Schicksale seinen Weg zu suchen. Welcher Art werden diese Schicksale noch sein – wohin werden sie ihn führen? Einstweilen steht er auf irdischem Boden, auf dem Boden menschlicher Geschichten, auf dem Boden der Wirklichkeit. Bloße Sehnsucht ist kein Leben. Auch jener, der eine ahnende Erinnerung an längstdurchlebte Schicksale, an große lichtdurchflutete Räume und ereignisreiche Zeiten in sich trägt, muß sich in der Gegenwart zurecht finden. – Das ist der Grundgedanke meines Gedichts …
Der Inhalt, der in zwei Hauptteile zerfallenden Dichtung, ist kurz der folgende: Ein junger Arzt, Walter Brand, reist im August von München nach Lindau am Bodensee. In der Bahn lernt er eine überirdisch schöne, weitgereiste, äußerst geistvolle, das Alltagsleben verachtende junge Dame, Alrune, Freiin von Münchhausen, kennen. Auf dem Lindauer Bahnhof entschwindet sie plötzlich Brands Blicken. Der Arzt geht in ein Hotel. Im Halbschlummer erscheint ihm Alrune, die rasch Liebe in seinem Herzen geweckt hat, sie macht ihn mit ihrem Vater, dem – Teufel, bekannt. Am andern Tage unternimmt unser Held eine Bootfahrt auf dem Bodensee, durch einen Sturm wird er an ein einsames, prächtiges Schloß, Seerieden, verschlagen, das mit
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 586. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_586.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)