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Seite:Die Gartenlaube (1897) 588.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

„Ich bin bereit,“ sagte sie flüsternd.

Der Stadtpfarrer ging hinaus und kehrte alsbald mit seinem Küster zurück, der auf silberner Platte die heiligen Gefäße trug.

Hildegard Leuthold strich sich das überfallende Haar aus der Stirn, als müßte sie jetzt auch äußerlich für die heilige Handlung sich vorbereiten. Dann kniete sie abermals auf die Steinfliesen und hob ihr süßes Gesicht voll gläubiger Unschuld zu dem Priester empor, der feierlich zu ihr herantrat. Mit den Worten der Schrift, die da beginnen. „Unser Herr Jesus in der Nacht, da er verraten ward –“ reichte er ihr die Hostie und dann den geweihten Trank. Sie genoß beides verklärten Blicks. Aufsehend küßte sie dem frommen, ehrwürdigen Manne die Hand.

„Ich sehe, mein Kind,“ sagte Herr Melchers leise, als sich der Küster Sidonius wieder entfernt hatte, „du bist stark – und wohl vorbereitet. Fürchte dich nicht vor denen, die da den Leib töten, aber die Seele nicht können töten! Du bist das Opfer eines abscheulichen Irrwahns – vielleicht einer grausenhaften Verleumdung. Aber wärest du noch so sündhaft: wer seine Sünden bereut, von dem gelten die Worte, die einst der Heiland am Kreuz zu dem bußfertigen Schächer sprach: „Wahrlich, ich sage dir, du wirst noch heute mit mir im Paradiese sein!“ Halte dich standhaft, meine geliebte Tochter, und ermüde nicht im Gebet, bis alles vorüber ist! Glaube mir, Gott legt dir nicht mehr auf als du tragen kannst! Ich verlasse dich jetzt. Eh’ du den schweren Gang antrittst, bin ich hier wieder zur Stelle. Ich werde dir als letzter irdischer Freund das Geleit geben.

Herr Melchers neigte trübselig das Haupt und entfernte sich. Kurz darauf kamen die Henkersknechte, um die Verurteilte für den letzten Gang nach Vorschrift zurecht zu machen. Es waren zwei handfeste rohe Gesellen, die sich sonst nicht entblödeten, bei dieser gräßlichen Obliegenheit ihre gefühllosen Scherze zu treiben. Vor der stillen Hoheit dieser jungfräulichen Gestalt aber verstummte ihr bübischer Witz. Lautlos und fast widerstrebend thaten sie, was ihres Amtes war. Sie trennten mit ihrer Schere den Kragen von Hildegards Wollgewand los und baten sie dann, selber das Haar zu lösen, das sie seit etlichen Tagen nicht mehr flocht, sondern zum einfachen Knoten schürzte. Ach, dies lichtbraune Haar! Voll und breit wallte es über die Schultern wie ein kostbarer Mantel! Von jeher war es der ganze Stolz ihres Vaters gewesen! Und Gustav Ambrosius hatte gesagt, wenn er ein Dichter wäre, würde er auf Hildegards schönes Haar tausend Sonette dichten. Nun fiel es unter dem Stahl dieser Henkersknechte wie reife Kornähren!

Die Unglückliche hielt sich bei alledem standhaft. Ihr Herz wandte sich demütig zu Gott, und der Glaube verließ sie nicht, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten dienen. Einmal nur zuckte sie qualvoll zusammen. Das kalte Eisen hatte sie derb im Nacken berührt. Es war wie das schauernde Vorgefühl des entsetzlichen Richtschwertes.

Als die zwei Knechte gegangen waren, empfand Hildegard eine plötzliche Anwandlung von Schwäche. Da rings am Boden lagen die lichtbraunen Strähnen, die noch vor kurzem ein Teil ihres Leibes und Lebens gewesen. Sie kam sich mit einem Male so hilflos, so über die Maßen entwürdigt vor. Es war, als sei erst jetzt ihre Verurteilung endgültig besiegelt. Aber auch jetzt fand sie Kraft im Glauben.

Der Kerkermeister – ein alter, weißlockiger Vlamländer von großer Bedächtigkeit – kam, um Hildegard Leuthold zu fragen, ob sie noch einen Wunsch habe. Am letzten Tage ward den Verurteilten mancherlei freigestellt, insbesondere auch die Wahl ihrer Speisen und der Empfang von Besuchen. Hildegard Leuthold versetzte gleichmütig, daß sie auf alles Verzicht leiste. Da ihr nun aber der Vlamländer vorstellte, sie müsse doch Nahrung nehmen und einen Trunk, um sich aufrecht zu halten, bat sie um etliche Bissen Brot und einen Schluck Rotwein.

Dann bückte sie sich und raffte die abgeschnittenen Haarsträhnen zusammen. „Wollt Ihr ein gutes Werk thun“, sprach sie voll scheuer Befangenheit, „so verbrennt das! Ich möchte nicht, daß irgend wer Unfug und Spott damit triebe!“

Der Vlamländer nickte zerstreut. „Und verkaufen könnt Ihr’s ja doch nicht,“ fuhr sie errötend fort „denn das Haupthaar der Hexe bringt ja ewiges Unheil!“

„Freilich,“ brummte der Mann, „das wär’ eine Todsünde. Eigentlich gehört’s ja dem Scharfrichter. Nun, ich will’s schon verantworten. Her damit!“

25.

Um drei Uhr nachmittags begann das unheilverkündende Armesünderglöckchen auf dem höchsten Turmgestühl der Marienkirche sein klägliches Wimmern. Es „kleppte“, wie man in Glaustädt sagte. Schrill und dünn, und trotzdem weithin vernehmbar, scholl dies Geläute über die Giebel und Dächer bis hinaus in die entlegensten Viertel.

Auch der unglückliche Magister in dem Haus an der Grossachstraße hörte es klar und deutlich auf seinem Siechbett. Es war heute zum erstenmal seit Herrn Leutholds Erkrankung, daß es da droben „kleppte“. Im Irrwahn des Fiebers aber mißdeutete er diesen gräßlichen Ton. Er fuhr empor und brach in lauthallenden Jubel aus.

„Gertrud,“ schrie er dann ungestüm, „Gertrud! Ich bitt’ Euch um alles, bringt mir schleunigst mein Festgewand! Hört Ihr die Glocken? Meine Hildegard macht jetzt Hochzeit! O das herzige Kind! Wie schön sie ausschaut in ihrem schneeigen Brautkleid! Wie frischgrün ihr der Myrtenkranz über dem lichtbraunen Haar sitzt! Eilt Euch! Ihr Vater muß doch dabei sein, wenn sie den Segen des Herrn empfängt! Sie hat ihren Vater so lieb gehabt! Wartet noch, bester Herr Pfarrer! Ich komm’ ja im Augenblick. Gertrud! Warum laßt Ihr mich so im Stich? O, dies wundervolle Geläute! Wie traut! Wie herrlich! Und ich werde zu spät kommen!“

Er sank wieder zurück in die Kissen. Die ängstlich starrenden Augen schlossen sich. Dann lag er bewegungslos und atmete schwer und dumpf, während Gertrud Hegreiner im Nebengemach schluchzend die Hände rang.

Das Armesünderglöckchen wimmerte auch hinab in die Weylgasse, wo Ephraim, der gelähmte Sohn der halb erblindeten alten Frau, hohläugig und aschfahl in seinem Stuhl kauerte. Die Mutter schien bei der ganzen Sache gleichgültig und stumpf. Es war ihr nichts Neues, daß scheinbar tugendsame und gottesfürchtige Jungfrauen plötzlich der Hexerei überführt und gerichtet wurden. Hildegard Leuthold war ihre Wohlthäterin gewesen – ja! Aber wenn diese Wohlthaten aus einer Seele kamen, die sich dem Teufel verschrieben hatte, dann schuldete sie ihr keinerlei Dank, und es war auch kein Segen dabei … Ephraim aber zerquälte sich seit der Verurteilung Hildegards mit unsäglichen Zweifeln. In seiner Herzenseinfalt hielt er es rein für undenkbar, daß der Gerichtshof den Tod verhängte, wenn Hildegard unschuldig war. Und doch sprach ihm tief in der Brust eine unüberhörbare Stimme fortwährend zu ihren Gunsten. Er rief sich die Engelhaftigkeit ihres Lächelns, die bezaubernde Anmut ihrer Mildherzigkeit und Güte ins Gedächtnis zurück und fühlte von Tag zu Tag mehr, daß sie ihm trotz ihrer Sünden teurer sei als irgend was auf der Welt. Nun klang das furchtbare Glöckchen zu ihrem letzten Gang. Das packte und schüttelte ihn mit jähem Entsetzen. Und gleichzeitig überrieselte ihn die Sehnsucht, einmal noch dies holde, liebreizende Antlitz zu schauen, das während so vieler Wochen des Leids und der Not seine Sonne gewesen, das ihm noch an dem Tag ihres Unheils Trost gespendet und frohe Verheißung. Qualvoller als je empfand er die elende Hilflosigkeit seines Zustandes.

Plötzlich riß man die Thür auf. Lore, die kleine Schuhflickerstochter, die sich neuerdings öfters um den armen Korbflechter gekümmert hatte, kam haltlos und ohne Atem herein. Sie warf sich neben dem Sessel Ephraims hart auf die Knie und faßte mit klammernden Händen nach seinem Wams. „Ephraim! Jetzt eben wird sie geholt! Halb Vier ist vorüber!“

Da ging ein merkwürdiges Ziehen und Arbeiten durch die Gliedmaßen des armen Gelähmten. Mit einem lauten Aufschrei fuhr er empor. Es war ein Wunder geschehen. Ephraim stand, Ephraim ging – taumelnd zwar wie ein Kind, das kaum noch des Gängelbands ledig ist, aber er ging doch. Die übermenschliche Anstrengung seiner Willenskraft hatte über die Trägheit seiner erkrankten Nerven gesiegt. „Ich will zu ihr! Ich will sie sehen! Führe mich, Lore! Sie ist doch keine Hexe! Nein, fürwahr, sonst hätte mir Gott der Herr nicht diese Gnade erwiesen! Er war außer sich. Die halbblinde Mutter, die bis jetzt auf ihrer Lindenholztruhe geschlafen hatte, sprang jählings auf und fragte voll Bangigkeit, was denn mit ihrem Sohne geschehen sei. Als sie gewahrte, daß

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 588. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_588.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)
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