Verschiedene: Die Gartenlaube (1897) | |
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weichen, schleierumflossenen Gewand sah das Mädchen mit seinem schneeblassen, stillen Gesicht, in dem die grauen Augen leuchteten, an der Seite dieses kräftig blühenden Mannes, dem es bis an die breite Schulter reichte, wie ein weltfremdes, aus irgend einem Zauberland geholtes Märchenwesen aus.
Langsam waren sie bis zu den Stufen vor dem Altar vorgeschritten.
Bei der Mutter angekommen, blieb Hanna stehen und ließ ihre Hand von Ludwigs Arm herabgleiten. Den weißen Rosen- und Myrtenstrauß der Mutter in den Schoß legend, beugte sie sich nieder und küßte sie auf den Mund. Diesem ganz unherkömmlichen Gebaren sah die Frau Schwägerin mit gerunzelter Stirn, die junge Verwandtschaft mit nur schlecht verbissenem Lächeln zu.
Aber die Unterbrechung hatte kaum eine Minute gedauert, und nun führte Ludwig schon, etwas rot im Gesicht, seine Braut an ihren Platz.
Zum Wundern blieb keine Zeit. Denn droben begannen in diesem Augenblick schon die Engelstimmen ihren zarten Gesang.
„Hebe deine Augen auf zu den Bergen, von welchen dir Hilfe kommt. Deine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht.
Hanna saß tiefatmend da, den traumverlorenen Blick geradeaus gerichtet. Der Schauer der Andacht, mit dem die unbeschreibliche Poesie der Kirchenmusik sie stets umwehte, senkte sich wieder auf sie herab und umspann sie ganz.
„Hebe deine Augen auf zu den Bergen von welchen dir Hilfe kommt!“
In die tiefe Stille hinein, die dem Verklingen des Engelgesanges folgte, tönte nun weich und mild, vor Bewegung zitternd, Pastor Erdmanns Stimme:
„Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.“
Er hielt sein Wort. Seine Rede war nur kurz. Sie enthielt keine herkömmlichen Floskeln, hatte eigentlich gar keinen rednerischen Schwung, war nichts als ein herzwarmer Geleitruf des väterlichen Freundes an das Kind, das die Schwingen lüftete zur Reise in das fremde Land, war eine schlichte Mahnung an die Erkenntnis der hohen Aufgabe für den Mann, der von heute ab dieses Kindes Führer sein wollte.
Die Hände des Pfarrers zitterten, als er sie nach dem gewohnten Spruch: „Rein, wie dieses Gold, und ohne Ende, wie dieser Ring, sei eure Liebe“ über den Vereinigten ausbreitete, um sie zu segnen.
„Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir,“ klang es wieder von droben, diesmal aber mit allen Stimmen, sogar im Doppelquartett. Man hätte dem kleinen bescheidenen Sängerchor diese jubelnde Tonfülle kaum zugetraut.
„Daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen, daß sie dich auf den Händen tragen, und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“
Hanna, von Ludwig unterstützt, hatte sich von ihren Knieen erhoben. Die Thränen liefen ihr übers Gesicht. Ohne jemand anzusehen wandte sie sich um, trat die Altarstufen hinab und kniete vor ihrer Mutter nieder, die, von heftigem, fast krampfhaftem Weinen geschüttelt, nur wortlos die Arme um ihr Kind schlang.
„Mutter, weine nicht,“ murmelte Hanna, am ganzen Körper zitternd, dicht an sie geschmiegt. „Weine nicht. Alles ist ja gut. Ich bin ja froh. Weine nicht, du machst dich krank.
Man ließ auf einen Wink des Sanitätsrates die beiden, die alles um sich her vergessen zu haben schienen, einstweilen gewähren. Der gelähmten Frau wegen mußte man ja auf die gebräuchliche Form, sich nach vollzogener Trauung in die Sakristei zurückzuziehen, verzichten.
Ludwig Thomas stand mit einem Gesicht, in dem Verlegenheit mit unwillkürlicher Rührung kämpfte, neben seiner jungen Frau, strich auch ein und ein andres Mal der Kranken über die Schulter und den Arm herunter.
„Daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen!“ schloß der Gesang jetzt zart und leise. Und zart und leise hob die Orgel wieder zu spielen an, wob ein Gespinst von seinen, allerfeinsten Modulationen aus dem Schlußaccord des Quartetts und spann sich dann in die Melodie der Mendelssohnschen Kavatine hinüber, die den Hochzeitsspruch gegeben hatte: Sei getreu bis in den Tod – –
Hanna, wieder gefaßt, erhob sich jetzt.
Erdmann kam auf sie zu, schloß sie in die Arme und küßte sie auf die Stirn. Mit Thomas wechselte er einen kräftigen Händedruck. Auch die Familienmitglieder näherten sich nun den Neuvermählten und die kühle offizielle Scene der stummen oder gemurmelten „Gratulationen“ löste die nervöse Spannung und leitete zu normalerer Stimmung über. Frau Wasenius war nun auch schon imstande, mit einigen freundlichen Worten auf die höflichen Redensarten der Breslauer zu erwidern.
Indessen hatten die Sänger mit anerkennenswerter Geschwindigkeit ihre Empore verlassen und kamen nun unter Anführung ihres Dirigenten den Mittelgang der Kirche herauf, um auch ihr Scherflein zur allgemeinen Beglückwünschung beizutragen.
Hanna streckte Günther, der mit nassen Augen daherkam, strahlenden Blickes beide Hände entgegen.
„Gutes, liebes Güntherchen! Wie schön, wie schön! Lauter Engelstimmen! Wie danke ich Ihnen! Und Ihnen allen, allen!
Sie winkte den Sängern und Sängerinnen zu, die sich nun allmählich heranschoben, um doch ein jedes ihrer sehr beliebten jungen Stimmführerin, zum Abschied gewissermaßen, die Hand drücken zu können. Helene Imhoff küßte die Freundin zärtlich.
„Liebe gute Hanna,“ murmelte sie mit Thränen in den Augen. Sie schlang dann – vorsichtig , um dem duftigen Schleiergewölk kein Leid anzuthun – beide Arme um sie. „Daß du mir glücklich wirst, das sag’ ich dir! So glücklich wie ich!“
Mit strahlendem Lächeln sah sie zu ihrem Manne auf, der sich unter dem „Publikum“ befunden hatte und nun glückwünschend herangetreten war.
Thomas dauerte diese Scene aber schon viel zu lange.
„Komm, komm!“ sagte er etwas ungeduldig. „Mach ein Ende, liebes Kind!“ Und zu der Gruppe der Chormitglieder: „Meine Herrschaften, genehmigen Sie in corpore meinen ergebensten Dank und gestatten Sie mir gütigst, meine kleine Frau nun endlich nach Hause zu führen.“
Hanna war leicht zusammengeschreckt.
„Gleich, bitte,“ sagte sie leise. „Nur noch – –“
Als letzter war Rettenbacher zurückgeblieben, scheinbar verdrängt von den andern, in die Bankreihen hinein. Hanna trat auf ihn zu. Die Anspannung all ihrer Nerven half ihr über ein plötzliches feiges Zittern hinweg, daß sie sehr blaß wurde, wußte sie nicht.
„Ein gutes Wort von Ihnen,“ bat sie mit matter Stimme.
Er nahm ihre dargereichte Hand, beugte sich und küßte sie. Zum erstenmal. Zum Abschied. Sprechen konnte er nicht. Er sah sie auch nicht an.
Aber Thomas war schon wieder da. Vielmehr hatte er das Mädchen nicht aus den Augen gelassen. Er schlang jetzt mit einiger Heftigkeit den Arm um Hannas Nacken und zog sie mit sich fort.
„Komm, mein Herz, wie lange soll ich noch warten! Empfehl’ mich, Herr Rettenbacher.“
Schon im Gehen, aber von ihm festgehalten, sah Hanna noch einmal zurück, sah in ein paar flammende Augen, in ein von tiefem Schmerz verzerrtes Gesicht, sah dieses so plötzlich unbeherrschte bleiche Gesicht zusammenzucken und sich schnell abwenden – – und blieb stehen, atemlos, von einem jähen, rasenden Herzklopfen überfallen.
„Was ist los? Wie siehst du aus?“ fragte Thomas erschrocken.
Sie schüttelte nur mit dem Kopf.
Argwöhnisch folgte er ihrem jammervollen Blick.
Dort ging langsam, langsam Arnold Rettenbacher zur offenen Kirchenthür hinaus.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 602. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_602.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)