Verschiedene: Die Gartenlaube (1897) | |
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Weile die stillen Züge der schlafenden Frau, in denen jener tiefe, seltsame Frieden aufzudämmern begann, der früher oder später die Starrheit der unbarmherzigen Majestät des Allbezwingers ablöste. Mit den warmen, herzlichen Augen des Menschenfreundes sah er dann auf die niedergeworfene, friedlos zitternde arme Gestalt der jungen Frau. Das dumpfe Stöhnen war verstummt, aber es rüttelte sie Schauer um Schauer. Ein Weilchen blieb es noch still im Zimmer. Durch die offenen Fenster zog in breiten glänzenden Streifen das Sonnengold herein; die Spatzen lärmten im Gebüsch, leise und melodisch klang dazwischen das plätschernde Rieseln des hohen Wasserstrahles im Springbrunnen. Dann sagte der alte Herr, sacht und gedämpft, als spräche er zu sich selber: „Wie sanft sie ruht, wie friedlich!“
Hanna zuckte zusammen und richtete sich langsam auf.
Er hätte gern das arme, elend entfärbte, verzerrte Gesicht in beide Hände genommen und gestreichelt. Aber er hütete sich wohl, er rührte sie nicht an. Er nickte ihr nur freundlich zu.
„Nicht wahr?“ sagte er noch. Und als sie nun, wie unter einer jähen, peinvollen Erinnerung, die Arme an den Leib ziehend, sich furchtsam umsah, winkte er beruhigend: „Es ist niemand sonst da. Die Thür ist zu. – Nicht wahr?“ wiederholte er dann, „wie friedlich sie ruht!“
Hanna kehrte das starre Gesicht der Mutter zu. „Sie ist tot,“ brachte sie dann heiser, fast tonlos heraus, mühsam die blutleeren Lippen regend. „Von Frieden weiß sie nichts.“
„Nicht?“ fragte er sanft. „Sehen Sie sie doch an!“
„Von Frieden weiß sie nichts,“ wiederholte Hanna, unter einem neuen Schauer erbebend. „Wie könnte sie Frieden haben, wenn sie wüßte, daß ich – hier allein –“
„Wohl, wohl,“ sagte der Arzt mit ernstem Lächeln. „Aber – sie leidet nicht mehr. Wollen wir ihr das nicht gönnen?“
Hierauf blieb es eine gute Weile still.
Hannas thränenlose, starre Augen hingen unverwandt an dem Gesicht der Mutter, auf das der unermeßliche, verheißungsvolle Traum der Ewigkeit den Abglanz eines sanften Lächelns hauchte.
„Hat sie es gewußt?“ kam es dann wieder in demselben, schwerverständlichen, zerbrochenen Ton von Hannas Lippen.
„Ganz gewiß nicht. Es war ein schmerzloser Tod, ohne Kampf, ohne Wissen, wahrscheinlich im Schlaf.“
„Ohne Abschied –“ sagte Hanna. Sie hob einen Augenblick, wie in schweren Schmerzen, die Hände an die Schläfen, ließ sie aber nun wieder sinken. „Ohne Abschied –“
„Also friedlich,“ setzte der alte Herr hinzu. „Wie hätte sie wohl beim Abschied gelitten! Möchten Sie sie zurückrufen, damit sie das auch noch erführe?“
„Zurückrufen!“ schrie Hanna auf „Ja, ja, zurückrufen! Sie wollte ja noch gar nicht sterben! Sie wollte ja noch mit mir glücklich sein!“
„Wir wollen fast nie sterben, meine liebe, gnädige Frau. Der heißeste Lebenswille wächst oft im Todesschatten.“
„Darum gestern so viel Freude, den ganzen Tag, so viel Hoffnung –“
„Ein verlöschendes Licht brennt flackernd hell. Haben Sie das noch nie gesehen? Die Flamme steigt höher als vorher, sie reckt sich und leuchtet im Vergehen. – Mir scheint, das Schicksal hat es noch gnädig mit ihr gemeint, daß es ihr den Abschied ersparte. Es stirbt sich leicht im Schlaf und ohne Seelenpein. Nur wenigen wird es so gut. – Wie nun, wenn Sie einem stundenlangen, qualvollen Todeskampf hätten zusehen müssen? wenn Sie sie in den Armen gehalten hätten, während sie verzweifelnd nach Atem rang? wenn die Sterbende Ihren Jammer gesehen hätte? wenn sie gewußt hätte: ich muß fort von dem Kind? – – Nein, nein, es ist gut so, meine liebe, gnädige Frau. Da es kommen mußte, wie es kam, ist es gut auf diese Weise.“
Mit einer jähen Bewegung wandte sich Hanna zu ihm. In ihren glanzlosen Augen zuckte ein düstres Funkeln auf.
„Warum haben Sie mir’s nicht gesagt – damals, daß keine Hoffnung war? Warum haben Sie mich belogen?“
„Das Lügen ist zuweilen unsere heilige Verpflichtung. Es ist Arzenei, uns anvertraut wie andere Gifte.
„Arzenei, heilige Arzenei –“ wiederholte die Unglückliche, in öder Verwirrung vor sich niederstarrend. Sie schüttelte dann den Kopf. „Sie hätten mir sagen müssen – – sagen müssen –“
„Und wie würden Sie dann wohl das Leben dieser letzten Wochen ertragen haben?“
„Ich würde – –“ sie verstummte wieder, heftig zitternd, und schloß die Lippen. Mit einem jammervollen Blick sah sie sich rings im Zimmer um.
An der Thür wurde jetzt geklopft.
„Wer ist es?“ fragte der Doktor, nur spaltbreit öffnend.
„Ein Freund,“ antwortete Pastor Erdmann.
Bertha hatte ihn geholt. Er trat ein, Hanna wandte sich um und schrie laut auf. Sie streckte ihm die Arme entgegen.
„Sie ist tot, sie ist tot! Alles war umsonst!“
„Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben, denn ob der Leib gleich stirbt, doch wird die Seele leben! – –“
Stand sie wirklich da an dem offenen Grab? – Und breitete der Pastor seine Hände über den Sarg, den festgeschlossnen?
– Und sie sah ihn hinabsinken, verschwinden – und blieb am Leben da oben, starb nicht vor Jammer?
‚Wir wollen fast nie sterben', hatte der da neben ihr gesagt, der alte Doktor. O Gott im Himmel, sie wollte so gern! All ihr Lebenswille lag da bei der stummen Mutter im Grab. Ihre arme Seele schrie nach dem Tod, nach dem unbarmherzigen Tod, der vorbeigegangen war, ohne sie mitzunehmen, der sie übrig gelassen hatte, ganz allein.
Da zogen sie schon die langen, weißen Tücher heraus.
Warum faßte sie der Doktor am Arm? Warum legte ihr Ludwig so fest die Hand auf die Schulter? Sie war ja ganz still, sie rührte sich ja nicht, sie gab ja keinen Laut von sich. Nur noch einmal sehen! Nur noch einmal – –
Blumen – Blumen in runden Körben – lose Blumen.
– Ja, hinunterwerfen, Blumen hinunterwerfen, keine Erde. Das war gut. Keine Erde. Sie fielen lautlos hinab, duftend. Viele Blumen. Keine Erde.
„Wenn ich einmal soll scheiden,
So scheide nicht von mir,
Wenn ich den Tod soll leiden,
So tritt du dann herfür –“
„Ich hab’s ja gewußt,“ sagte Thomas mit finsterm Gesicht, indem er den Arm um seine Frau schlang, die, als der leise Gesang angehoben hatte, plötzlich in fassungslosem Weinen zusammengebrochen war. „Ich hab’s ja vorher gewußt, daß ihr die Musik auf die Nerven fallen würde. Nun sind wir soweit. „Gottlob, daß wir soweit sind,“ sagte ganz leise der alte Doktor neben ihm. „Nicht auf die Nerven fällt ihr die Musik. Im Gegenteil, sie löst die Spannung. War Ihnen vielleicht wohler bei der Starrheit vorher? Mir nicht, kann ich Ihnen sagen“
„Wenn mir am allerbängsten
Wird um das Herze sein,
Reißt’ du mich aus den Aengsten
Kraft deiner Angst und Pein!
„Lassen Sie sie weinen, viel weinen! Der alte Sebastian Bach thut ihr keinen Schaden. Und führen Sie sie sachte langsam weg. So. – Weiter, nur weiter! – Meine liebe, gnädige Frau, hier kommt jemand, der Ihnen gern die Hand drücken möchte.
Hanna richtete sich mühsam auf und nahm das Tuch von den Augen.
Günther stand vor ihr. Er weinte wie ein Kind, die Thränen liefen ihm in den großen schwarzen Bart.
„Hannichen,“ schluchzte er, „ich sollte bald wiederkommen, hatten Sie gesagt. Nun bin ich da und sie weiß nichts mehr davon. Hannichen, mein armes, armes Hannichen!“
Sie wollte sagen ‚ich danke Ihnen', sie brachte aber nichts heraus. Sie machte sich nur von ihrem Mann los und schlang einen zitternden, matten Arm um Günthers Nacken. Er streichelte sie ein paarmal, löste aber dann sacht ihre Hand von seiner Schulter. Der finstere Blick Ludwigs beklemmte ihn, ließ auch seine Thränen gerinnen.
„Da ist auch der Rettenbacher,“ murmelte er.
Hanna zuckte leicht zusammen, als sie ihre Hand ergriffen fühlte. Sie kannte diese schlanke, warme Hand, die sich da so fest um die ihre schloß. Zum letztenmal hatte sie sie gehalten in
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 634. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_634.jpg&oldid=- (Version vom 22.12.2016)