Verschiedene: Die Gartenlaube (1897) | |
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Nr. 39. | 1897. | |
Die Gartenlaube.
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(8. Fortsetzung)
Mit einiger Besorgnis hatte Ludwig Thomas der ersten Nacht, der ersten nach dem Begräbnis, entgegengesehen. Er hatte erwartet, daß sie sich in ihre Kissen gedrückt zu schanden weinen und schluchzen würde. – Nichts davon. – Sie lag, ohne sich einmal zu rühren, ohne einen Laut bis zum Morgen. So oft er sich aufrichtete, um nach ihr zu spähen, sah er ihr bleiches stilles Gesicht mit offnen Augen, unverändert. Daß sie gar nicht schlief, war ihm unangenehm, machte ihn eigentlich nervös. Er selber hatte dadurch wieder eine unruhige Nacht. Denn, obwohl er von der Müdigkeit überwältigt, immer wieder einschlummerte, weckte ihn zu ungezählten Malen das quälende Bewußtsein dieser schweigend wachenden Nachbarschaft. Aber er musste ja schon froh sein, wenn sie nicht jammerte und stöhnte. Seine Energie nach der Heimkunft vom Friedhof hatte gute Dienste geleistet. Er hätte nur gleich so energisch auftreten sollen, hätte sich gar nicht erst von der Autorität des sentimentalen alten Doktors beeinflussen lassen sollen, der verlangte, daß man Hanna einstweilen zu nichts, aber auch zu gar nichts zwingen soll, daß man nicht einmal den Versuch mache, sie aus dem Sterbezimmer wegzubringen, daß man sie ruhig mit ihrer Mutter allein lassen, nachdem sie sie mit Hilfe der Bertha gekleidet und in den Sarg gelegt hatte.
Er begriff jetzt nicht mehr, daß er so schwach hatte sein können, diesen offenbaren Verrücktheiten nachzugeben. Ein solches
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 645. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_645.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2021)