Verschiedene: Die Gartenlaube (1897) | |
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„Junge Mädchen,“ wiederholte Schilcher in seiner trockenen Art, „… pflegen aber ihre Träume gerne zu erzählen.“
„Dir?“ sagte sie. „Du lachst mich nur aus!“
„Wie werd’ ich. Siebzehnjährige Mädchen lach’ ich niemals aus, das sind sehr ernsthafte, ernst zu nehmende Wesen. Also ein poetischer Traum?“
„O!“ stieß Gertrud heraus. „Ein wunderbarer Traum! – Weißt du, ich lag auf einer Wiese, oder auf irgend was Grünem, unter einer Eiche, oder so eine Art von Baum. Plötzlich stand da – – Aber du lachst mich wirklich nicht aus?“
„Wie werd’ ich!“
„Plötzlich stand da ein großer, langer, alter weißbärtiger Mann vor mir, sonderbar gekleidet – hast du einmal ägyptische Priester auf Bildern gesehn? Na, so ungefähr. Und der hob eine Hand – eine schauerlich weiße Hand war’s, aber doch sehr schön – und sagte ohne weiteres ein ganzes Gedicht zu mir, warum, weiß ich eigentlich nicht. Es klang aber so feierlich, so – nun lachst du. – Nein? – Es klang wie Musik wunderschön! mir schien’s wunderschön. Und der Inhalt war –“ Sie stockte. Schilcher wartete eine Weile, dann fragte er mit seinem ernstesten Gesicht. „Und der Inhalt war –?“
„Auch sehr feierlich,“ antwortete sie etwas verlegen „von Glück und – Liebe und – – Aber als ich aufwachte, hatt’ ich es vergessen. Nur diesen einen Vers hatt’ ich noch im Ohr – den du vorhin gehört hast.“ –
„Bitte, noch einmal!“
„Und immer ging sie fort, aufs offne Himmelsthor …“ Gertrud senkte ihr Köpfchen und lächelte still und glücklich vor sich hin.
Schilcher war auch eine Weile still, ganz regungslos wie gewöhnlich, denn viel mit den Gliedern zu sprechen war nicht seine Sache. Das bartlose Gesicht mit den frühen Runzeln, den starken Brauen, der gekrümmten Nase und dem vortretenden Kinn – eigentlich eine Art Nußknackergesicht – betrachtete das Mädel, an dem seine Seele so hing, mit einem langen Blick aus dem Augenwinkel, um die schmalen Lippen ging ein verstohlenes, weiches Lächeln. „Hm!“ machte er endlich und schob das Lächeln weg. „Der Vers ist übrigens eigentlich nicht ganz richtig, Gertrud. Es müßte doch heißen: Und immer ging sie vorwärts aufs offne Himmelsthor’ … Nicht?“
„Ja, ja,“ antwortete sie, dachte aber wohl an etwas anderes.
Der alte Herr schwieg wieder ein Weilchen. „Bist wohl sehr glücklich, meine kleine Gertrud?“ sagte er dann langsam.
Sie lächelte ihn träumerisch an und sagte nichts.
„Freust dich wohl sehr auf den herrlichen göttlichen?“
„Auf wen?“ fragte sie etwas hastig.
„Nun, auf den ersten Ball.“
„Ja, ja!“
„Den ersten Ball, den du selber giebst! – Wenn wir nur erst im Ballkleid prangen – Rosen im Haar, oder Gott weiß was … Wirst du auch noch fertig?“
Sie lachte. „Beruhigen Sie sich, Herr Oberappellationsrat. Regen Sie sich darüber nicht auf!“
„Werd’ mich also nicht aufregen. Danke.- Der erste Ball, den man selber giebt, siebzehn Jahre alt. – Ja, das ist nun auch eines von den Gefühlen, die ich nie gekannt habe! Der erste Ball – die Hochzeit – die Kindtaufe – diese drei höchsten Momente, die sind mir entgangen.“
Gertrud, die nun neben ihm stand – die lange Person war größer als der kleine Herr – hob sich auf den Zehen, im Uebermut, um auf die kleine Glatze zu sehn, die zwischen seinen etwas struppigen, emporgesträubten Haaren wie ein Teich im Schilf lag. „Ach, du armer Mann“, sagte ihre liebe, streichelnde Stimme. „Du bist wohl sehr unglücklich?“
„Könnt’s nicht sagen, nein!“ erwiderte er mit seiner trockenen Ruhe. „Erstens freu’ ich mich mit Gertrud Rutenberg sehr auf ihren ersten Ball. Zweitens hab’ ich diese Gertrud Rutenberg vor siebzehn Jahren taufen helfen und – und liebe sie ja ungefähr wie ein eignes Kind. Und drittens –“
„Und drittens?“ fragte das Mädchen, da er inne hielt. Ihr ganzes kluges Gesichtchen lachte. „Und drittens denkst du noch zu heiraten?“
„Ne, das doch nicht. Aber wenn wir eines Tages Gertrud Rutenberg verheiraten, dann werd’ ich ja auch dabei sein; das heißt später, später, so ein zehn Jahre hat es wohl noch Zeit!“
Gertrud sah ihn über die Schulter an, sagte aber nichts. Sie war schon wieder bei ihrem Traum, in ihr summte es wieder mit der Priesterstimme. „Und immer ging sie fort …“
„Guten Abend, Schilcher!“ sagte jetzt Rutenberg, der Vater, der mit Lugau und Wild vom Salon hereintrat. „Da ist ja wieder die ganze Whistpartie beisammen. Ihr seht, die Spieltische sind schon fertig, könntet gleich dableiben und euch niedersetzen.“
„Ja, das könnten wir wohl,“ entgegnete Doktor Wild, dessen volles Gesicht wie gewöhnlich von Behagen glänzte, „aber schöne Leute haben ihre Pflichten. Wir müssen uns erst durch den Frack und die weiße Weste unwiderstehlich machen, sintemal es ein Ballfest ist. Was würde Gertrud sagen, wenn ihre drei Haus-Adonisse nicht ihre Schuldigkeit thäten, um vollkommen schön zu sein!“
Wild sah seine Kollegen mit den vortretenden Humoristenaugen an und lächelte einen Augenblick. Sie waren alle drei nicht schön, Lugau, Wild und Schilcher, neben dem kleinen „Nußknacker“ Schilcher stand der Doktor breit und mächtig da, aber leider viel zu dick, und der viel kürzere Lugau war fast noch dicker, sodaß ihn die Freunde den „Schneeball“ nannten, weil er wie die Blüten des Schneeballs sich so allmählich aufgerundet hatte. Nur Rutenberg war ganz wohlgebaut, stattlich, ein echter nordischer Germane mit regelmäßigen, kräftigen Zügen und strahlend blauen Augen. Doch im Humor, konnte man wohl sagen, waren sie alle gleich, ein stadtbekanntes „vierblättriges Kleeblatt“, das schon lange zusammenhielt; zwei Witwer, zwei Junggesellen, drei von ihnen sehr dem Whist ergeben, das damals – im Herbst 1880 – noch nicht so wie jetzt vom Skat abgelöst worden war. Rutenberg, der vierte, saß lieber daneben als Zuschauer, allein oder mit seiner Gertrud, seiner geliebten „Puppe“. So dachte er auch heute zu thun, während seine Puppe tanzte; darum sagte er, die Hand auf einen Spieltisch legend. „Alles ist da, ihr Männer, auch den Geist des Strohmanns hab’ ich eingeladen, denn ohne den Strohmann könnt ihr ja nicht leben. Vergeßt nur nicht das Wiederkommen, und zur rechten Zeit!“
Wild verneigte sich. „Hast’s schon einmal gesagt, danke ergebenst für die Wiederholung.“
„Lieber Wild,“ bemerkte Rutenberg, „wir haben unvergeßliche Beispiele von vergeßlichen Junggesellen! – Er wandte sich zu Gertrud: Nun, Kind? Das Buch! Ich warte auf das Buch!“
„Heiliger –!“ rief das Mädel aus. „Vergessen!“
Die drei Whistspieler lachten. Wild sah die Tochter und dann den Vater mit seinen glänzenden Augen triumphierend an. „Es scheint,“ sagte er, „die Vergeßlichkeit beschränkt sich nicht auf zu dick gewordene Junggesellen –“
„Ja, ja!“ schmunzelte Schilcher. „So ein siebzehnjähriges Junggesellchen vor dem erstes Ball!“
Der kleine runde Domänenrat Lugau nahm nun auch das Wort, seine redseligen Arme mitbewegend. „So war’s auch damals mit der Grete, meiner kleinen Nichte, – heute abend kommt sie. Gab auch ihren ersten Ball, konnt’ es nicht erwarten! Ganz in Rosa, sah aus wie ein Flamingo stundenlang ging sie in träumerischer Erwartung durch die Zimmer, – so!“
Er versuchte es nachzumachen, wie das seine Art war, es saß ihm in den Gliedern, er konnte es nicht lassen. Der „Schneeball“ bewegte sich träumerisch, schmachtend hin und her, es war aber doch mehr, wie wenn eine Kugel auf zwei Rädchen rollte. „Und dann“ fuhr er fort, „dann sah sie wieder in den Spiegel, gradaus, seitwärts, rückwärts, – so!“
Er machte es wieder nach, wie seine Grete in den Spiegel schaute. Gertrud lachte, zuletzt unbändig, sie lachte sich auf einen Stuhl. „Ach“, sagte sie dann, „wie anmutsvoll spielen Sie so ein junges Mädchen! Jeder Jüngling muß sich ja in Sie verlieben, Herr Domänenrat.“
„Es war so!“ rief Lugau eifrig aus. „Auf Ehre!“
Jetzt lachten alle.
„Also, das Buch!“ sagte Rutenberg. Gertrud schnellte vom Stuhl empor: „Ja, jetzt hol’ ich das Buch!“
Sie ging wieder am nächsten Büchergestell entlang, mit
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 670. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_670.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)