Verschiedene: Die Gartenlaube (1897) | |
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tragikomisch gen Himmel. „Jetzt versteh’ ich die Sache, jetzt ist alles klar: Fräulein Gertrud will fort! Der Adonis hat ihr vorgeschlagen, ihrem Tyrannen zu entfliehn, und als ihres Vaters Tochter hat sie eingewilligt!“
„Entfliehn!“ rief Rutenberg fast zu laut. „Eingewilligt!“
„Nicht wieder durchgehen, Alter,“ flüsterte Schilcher. „Ruhig. Leise, sotto voce. Ja, mit dem Heißgeliebten fort; offenbar. Scheint mir jetzt unzweifelhaft! Sie ihm nach, wenn’s still ist, und ans Meer hinunter –“
„Ans Meer hinunter!“
„Und von da nach Vico. Das Durchgehn hat sie ja von dir –“
„Meine Gertrud! Mein Kind! Rutenberg hob die Arme, schien wieder fortstürzen zu wollen, gegen Gertruds Thür. Schilcher hielt ihn fest. „Na, na!“ raunte er nur. „Kaltes Blut!“
„Hast recht“, flüsterte Rutenberg. „Eine zweite Uebereilung – Gott bewahre, Schilcher. Ich bin ruhig, Schilcher. – Einsperren? Gewalt? Nichts da. Das Kind ist nicht bei sich, ist in einer kritischen Ueberreizung, der man Zeit lassen muß. Weckt man ihre Leidenschaft, so ist sie zu allem fähig –“
„Als Wilhelm Rutenbergs Kind!“
„Ja, ja … Also was thun? – Ruhig Blut behalten – und sie nicht fortlassen. Still sein, aber wachen –“
„Schildwache stehn,“ ergänzte Schilcher.
„Ja, ja! Schildwache stehn. Bis zum Morgen, wenn’s sein muß! – Sie hat noch eine Thür nach der Südterrasse; die verschließ’ ich, Schilcher, leise, ohne daß sie’s merkt. Dann kann sie nur noch durch diesen Salon hinaus, und da wachen wir – du und ich!“
„Ich mit dir, versteht sich. Statt der Whistpartie haben wir eine andre Unterhaltung –“
„Ich verschließ’ die Thür!“
Hurtig, aber auf leisen Füßen schlich Rutenberg auf den Südbalkon hinaus, in die jetzt dunklere Nacht. Er war eben draußen, als von der andern Seite, wie vom Ufer oder vom Meer herauf, ein gedämpfter Gesang sich vernehmen ließ. Sollte das schon ein Zeichen sein? dachte Schilcher, der über diese Katastrophe des Hauses Rutenberg nun doch auch den Kopf zu schütteln anfing. Sachte, nicht wie ein Oberappellationsrat, sondern wie ein Verbrecher, bewegte er sich bis an die Glasthür, die nach Norden sah, und öffnete sie. Nein. Er konnte nun deutlich hören, es war ein italienisches Lied, echt italienisch gesungen, er erkannte auch Pasquales Stimme, der offenbar auf der zum Meer hinunterführenden Felsentreppe sang. Also jedenfalls waren Pasquale und Wyttenbach noch nicht fort! – Eine Weile horchte er halbverloren hin. Auf einmal durchfuhr ihn ein Gedanke, daß es ihn ein wenig schüttelte und er leise lachen mußte. Mit Pasquale reden und ihm –! Er schloß die Balkonthür, er knöpfte seinen Rock wieder zu, unternehmungslustig. Als Schildwache auf dem Posten mußte er hier noch warten bis Ablösung kam. – Rutenberg kam zurück. „Du, ich hab’ noch einen Gang,“ flüsterte er jetzt. „Wach’ so lang’ allein. Ich bin gleich wieder da!“ Er ging auf den Korridor hinaus, sich ein Liedchen pfeifend.
Rutenberg setzte sich auf einen Stuhl an dem runden Tisch, mit den Augen auf Gertruds Thür, rieb sich die Kniee mit den Händen und wiegte sich vor und zurück. So, dachte er, meine tollgewordene Trudel hab’ ich eingeschlossen. Leise wie ein alter Dieb. Das wird jetzt eine lustige Nacht! – Wenn dann der Mond noch kommt, können wir hier schwärmen … Ist man selber nicht mehr jung, so verschaffen einem die Jungen solche italienischen Nächte, und die glücklichen Väter segnen sie dafür und bedanken sich! Er verlor aber den Humor doch nicht, das thaten er und seine Landsleute nicht. Eine Nachtcigarre begann ihm jetzt vorzuschweben, in den Salon kamen nun keine Gäste mehr, die gingen alle zu Bett, rauchen war gestattet. Er zündete sich eine seiner guten, milden Cigarren an; auch ein Trost, ein Glück! dachte er, ich danke! – Wenn ich nun das Schachspiel hole, sind wir ganz geborgen und wenn ich uns aus demselben „Fumoir“ die halbe Flasche Wein hole, die wir da vorhin stehen ließen –
Er stand wieder auf, schlenderte gemütlich ins Rauchzimmer und nahm das Schachbrett, auf dem die Figuren noch herumlagen, von dem kleinen Tisch. Auf dem größeren stand die Flasche mit den beiden Gläsern, halb? Er hatte sich geirrt, sie war noch beinahe voll. Ein unerwarteter Segen. So viel Glück konnte er ja gar nicht verlangen, er blickte wieder gen Himmel: ich danke! Diese Schätze im Arm, kam er in den Salon zurück. Er stellte sie auf den runden Tisch, langsam, um die Zeit zu füllen, ließ er die durcheinandergeworfenen Schachfiguren wieder aufmarschieren. Als er damit fertig war, belohnte er sich durch einen guten Schluck, den er sich aus der Flasche einschenkte. Das macht noch nicht müde, murmelte er. Schildwachen muß man bei guter Laune erhalten … „Ach!“ entfuhr ihm plötzlich, da er die Augen wieder auf Gertruds Thür hatte, er seufzte.
Es dauerte noch eine gute Weile, wie ihm deuchte, bis die Korridorthür wieder ging. Schilcher trat geräuschlos ein. „Das wär’ abgemacht!“ sagte er leise, mit einem kaum erkennbaren Lächeln im stillen Gesicht, und setzte sich neben die andre Schildwache auf den nächsten Stuhl.
„Was?“ fragte Rutenberg.
„Ich hab’ ihn noch erwischt, den Pasquale mein’ ich. Für italienisches Papiergeld ist der gute Kerl wunderbar empfänglich, thut dafür auch alles, der Spitzbube. Er und sein Compagno sollen, wenn unser Seefahrer eingestiegen ist und sie mit ihm an den Felsen hinfahren –“ Schilcher hielt inne und schmunzelte in seinem stillen Vergnügen vor sich hin.
„Na, was sollen sie?“
„In der Dunkelheit etwas Brandung machen das heißt, hin und her schaukeln, ohne daß der kühne Seefahrer es merkt. Das wird ihm vielleicht nicht gefallen, kann vielleicht nützlich sein!“
Rutenberg lächelte: „Du wirst ja auch ein Spitzbube unter diesen Welschen! – Das kann uns nützen, meinst du?“
„Vielleicht! Chi lo sa! Man muß nichts versäumen. Wir sind jetzt auf Kriegslisten angewiesen, Vater Rutenberg. Wenn sich das bewährt, daß der junge Held und Entführer keine Wellen vertragen kann …“ Er rieb sich noch einmal vergnügt die Hände, dann nahm er einen weißen und einen schwarzen Bauer vom Schachbrett, um mit dem andern zu losen, wer den ersten Zug hätte.
„Wie spät ist es denn?“ seufzte Rutenberg.
„Zehn Stunden vor Sonnenaufgang,“ antwortete Schilcher nach einem Blick auf die Uhr.
„Also noch hübsch viel Zeit! – – Nicht wahr, du alter Romantiker, so ’ne Nacht gefällt dir.“
„Zu Hause spielen sie Whist! – – Schildwach’ sitzen ist ja aber auch eine hübsche Sache, für uns alte Kerle. – Ich dank’ dir, schenk’ mir nicht ein; trinken mag ich nicht. Rauchen mag ich auch nicht – Das Merkwürdigste ist, daß ich gerade heute abend plötzlich müde werde …“
Er riß die Augen auf und schüttelte unwillig den Kopf.
„Armer Schilcher!“ summte Rutenberg, und seufzte dann wieder. „Ich bin nur zu wach! Ich hab’ hier ein niederträchtiges Gefühl – er wies auf sein Herz – „hier in dieser Gegend. Vater sein! Ja, ja! All das Thun und Sorgen, Schaffen und Hoffen, siebzehn Jahre lang – damit man dann so wie eine Feldwacht da sitzt und horcht in der toten Nacht …“ Er stand plötzlich auf. „Rührte sich was?“
Schilcher horchte. – „Nein. Die Flurlampe wird gelöscht.– Ich hatte mal einen Hund, der immer fortlaufen wollte …“
„Schilcher!“ sagte Rutenberg, nachdem er sich wieder gesetzt hatte.
„Was?“
„Ich verzage, Schilcher.“
„Das geht dir zuweilen so.“
„Wir sitzen hier … Wir sind wieder am Anfang, Schilcher! Wie auf diesen labyrinthischen Wegen hier zu Lande –“
„Ja, über die schimpfst du gern –“
„Wo man zwischen den hohen Gartenmauern fortgeht, ohne zu sehn, wohin, und der Weg windet sich und windet sich – und endlich kommt man ungefähr da wieder heraus, wo man angefangen hat. – Wie soll’s denn enden, Schilcher? Morgen ist’s ebenso. Das Kind ist von Sinnen; das Kind giebt nicht nach. An dieses ‚Ideal‘ hat es sein Herz, seinen Kopf, seine Vernunft verloren, ja, ja, seine Vernunft!“
Schilcher stellte die beiden Bauern wieder auf den Tisch; als er den zweiten, den weißen hinstellte, deutete er mit dem Finger auf den.
„Was meinst du? – Was willst du damit sagen?“
„Ja, ja,“ brummte Schilcher, „so geht’s nicht. – Er deutete nochmals auf den zweiten Bauer. – „Uns fehlt der andre, Rutenberg.“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 752. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_752.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)