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Seite:Die Gartenlaube (1897) 763.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

brauche ich nicht zu versichern. Auch begriff er nicht, daß ich den brennenden Wunsch hegen könne, noch „etwas Ordentliches“ zu lernen. Ich sei ja schon gescheiter als nötig wäre, spräche drei fremde Sprachen – du lieber Gott! das Französisch und Englisch, das man uns auf der Schule beigebracht, kaum ausreichend, um einen Roman notdürftig lesen zu können, aber sprechen! Du entsinnst Dich, wie wir heimlich lachten, wenn in der oberen Klasse unser Direktor aus Racines „Athalie“ vorlas, den Accent immer auf der ersten Silbe, und die ongs und angs – und dann das bißchen Italienisch, das ich mir selbst mühsam aus den „Promessi sposi“ angeeignet hatte! Ob ich gar noch mein Lehrerinnenexamen machen oder der überspannten Freundin Maria nach England folgen wolle, obwohl die da drüben verdorben und gestorben zu sein scheine, da sie nichts wieder habe von sich hören lassen? (So weit entblödete sich Dein früherer Anbeter nicht, Dich zu verunglimpfen, da er um ein abschreckendes Beispiel für mich verlegen war!)

Ich erwiderte ganz ruhig, ich hielte es nicht aus, so beruflos herumzugehen und mir selbst zur Last zu fallen. Auch ich erkennte es als die natürlichste und beglückendste Aufgabe des Weibes an, am eigenen Herde für Mann und Kinder zu sorgen. Wenn ich nun aber zufällig zu den Millionen unverheirateter Mädchen gehören sollte, die nach den statistischen Ermittelungen das Deutsche Reich bewohnen, so könne man mir’s nicht verdenken, daß ich mich dazu vorbereiten möchte, für den geistigen Hunger, den ich fühlte, mir die zusagende Nahrung zu schaffen.

Dazu würden mir auch die schönen Vorträge im Lyceum, die ich einen Winter lang hatte besuchen dürfen, nicht verhelfen. Da werde eben geistiges Konfekt geboten, sehr appetitlich zum Naschen für die Töchter der oberen Zehntausend. Ich aber hungerte nach Brot, nach nahrhaftem, selbst verdientem und erarbeitetem Brot, nicht nach Kuchen, wie sie zum Dessert für einen verwöhnten Gaumen geeignet sein möchten! Hartes Holz wollte ich bohren, von der Pike auf dienen und mich gar nicht schämen, mich auf meine alten Tage – ich war ja schon einundzwanzig alt! auf die unterste Bank eines Mädchengymnasiums zu setzen, um mit mensa mensae meine Lehrjahre zu beginnen. Otto lachte dazu. So alte Schülerinnen würden ja an den paar weiblichen Gymnasien gar nicht aufgenommen. Wenn ich einen so unbezwinglichen Heißhunger nach Latein und Griechisch hätte, die er nur immer mit Widerstreben habe hinunterwürgen können, so wolle er mir seine alten Grammatiken schenken – „nein“, setzte er hastig hinzu und errötete (in dem Bewußtsein, sie längst „verklopft“ zu haben), du für dich allein kannst ja nicht weit kommen, du müßtest Privatstunden nehmen. Und auch in den anderen Gymnasialfächern, wenn du das Abiturientenexamen machen willst, um zu studieren. Das kostet ein Heidengeld. „Und was möchtest du denn studieren?“

Das hatte ich noch nicht genauer überlegt. Er wisse wohl, sagt’ ich, daß ich früher leidenschaftlich gewünscht hätte, Medizin zu studieren. Eine ältere Schwester unsrer Mutter, Tante Lisbeth, hatte zehn Jahre lang mit uns gelebt, in einem kläglichen Zustande. Sie hatte sich als junges Mädchen, da sie von einer schweren Unterleibskrankheit befallen wurde, nicht entschließen können, sich der Untersuchung durch einen Arzt zu unterziehen, und Aerztinnen gab es damals noch nicht in Berlin. So war das Uebel mit der Zeit unheilbar geworden, hatte ihre Jugend zerstört, ihre späteren Jahre verdüstert so daß sie in einer Schwermut dahinlebte, die an Irrsinn grenzte.

Sobald ich dies alles eingesehen, war in meiner jungen Seele das brennendste Mitleid erwacht mit dieser armen Dulderin und den Unzähligen, die gleich ihr an ihrem weiblichen Zartgefühl zu Grunde gehen. Aber die Eltern wollten davon nichts wissen, daß ich in die Schweiz ginge, um zu studieren, und als die arme Tante endlich von ihrem Leiden erlöst war, trat auch mir der Gedanke wieder fern, zumal ich ein geheimes Grauen vor der Anatomie und allem sonstigen schwer zu Ueberwindenden hatte, was mit dem ärztlichen Beruf zusammenhängt. Dich, meine Maria, bewunderte ich um so mehr, daß keine Blutscheu, kein Schauder und Ekel vor dem Handwerk der Kunst, der Du Dich widmen wolltest, Dich von Deinem Vorsatz zurückschrecken konnte. Und daß das weibliche Schamgefühl verletzt werden müsse durch das ärztliche Studium – wie die Professoren behaupten, die unser Geschlecht aus ihren Hörsälen fernhalten wollen –, ist doch nur ein leeres Gerede, ebenso wie die Behauptung, wir seien für diesen anstrengenden Beruf körperlich nicht kräftig genug. Als ob der Pflegedienst von Diakonissen und barmherzigen Schwestern nicht oft eine härtere Arbeit wäre und das weibliche Zartgefühl dabei nicht auf ebenso schwere Proben gestellt würde, ohne daß die Männer, die immer mit doppeltem Maße messen, Einspruch dagegen thaten! Haben sie sich nicht auch von jeher darein ergeben, einen Teil ihrer Pflichten an die „weisen Frauen“ abzutreten? Und gestehen die Ehrlichsten unter ihnen nicht ein, daß es nur die Furcht vor der vermehrten Konkurrenz ist, was ihnen das Eindringen unseres Geschlechts in den medizinischen Beruf bedenklich erscheinen läßt? Aber wenn ich für meinen Teil zur Aerztin verdorben war, gab es nicht andere Wissenschaften, die das Ungenügen einer nachdenklichen Mädchenseele stillen konnten? Freilich nur, wenn ihr erlaubt würde, von dieser Speise zu essen, nicht bloß zu naschen. Wäre wirklich ein weibliches Gehirn nicht groß genug, Geschichte, Litteratur- oder Kunstgeschichte aus dem Grunde zu studieren, eine der Naturwissenschaften sich anzueignen und daraus einen Lebensberuf zu machen? Hat es nicht Frauen gegeben, die sogar in Mathematik und Astronomie die Bewunderung ihrer Fachgenossen gewonnen haben? Ausnahmen! warf mein Bruder mir ein. Ja freilich, da heute noch ein ausnahmsweises Maß auch von Willenskraft und Mut dazu gehört, die angeborene Begabung zu so strengen Disziplinen auszubilden, und überdies eine besondere Gunst der äußeren Umstände! Mädchen, die acht Jahre lang keinen anderen Unterricht genießen durften als den unserer „höheren Töchterschulen“, von den „Instituten“ ganz zu schweigen, deren Kopf nur angefüllt wurde mit einem Haufen zusammenhangloser bunter Namen und Daten, deren Denkkraft nicht einmal an dem logischen Bau einer der alten Sprachen sich üben durfte, da alles Gewicht auf das Nachplappern von Vokabeln und Sätzen der ausgeschliffenen modernen gelegt wurde – wie kann es solchen Mädchen ohne eine übermäßige Anstrengung gelingen, nachdem sie die schönste Zeit, wo das Gedächtnis noch frisch ist, verloren haben, noch einmal von unten anzufangen und das, was die Knaben in acht methodisch eingeteilten Schuljahren lernen, auf ihre eigene Hand nachzuholen und, immer nur mangelhaft und auf Kosten ihrer leiblichen Gesundheit, in sogenannten „Humanistischen Kursen“ sich anzueignen?

Aber selbst auf die Gefahr hin, bleichsüchtig zu werden und bis zu meinem fünfundzwanzigsten Jahr den ganzen Wissensstoff halbverdaut zu verschlingen, der zum Zeugnis der Reife erforderlich ist, – ich hätte mit Freuden alles daran gesetzt, um nur das Gefühl geistiger Ohnmacht und Unzulänglichkeit los zu werden. Was ich dann für ein Studium wählen würde, wär mir einstweilen noch dunkel, aber auch sehr gleichgültig. Alles prüfen und das Beste, mir Gemäßeste behalten! Wissen denn die Knaben in der Prima alle schon genau, für welche Wissenschaft sie sich eignen würden? Höchstens, was sie werden wollen, und auch das meistens nur, weil ihre Väter es ihnen vorschreiben! Ich aber wollte zunächst nichts werden, nur etwas sein, etwas, was mich innerlich befriedigt, daß ich vor mir selbst Respekt haben könnte. Irgend einen Kreis von Erkenntnissen vollständig beherrschen, so daß ich mich darin zu Hause fühlte. In Liebe, das ist das Wort. Mit unserer oberflächlichen Schulbildung waren wir nicht weiter gekommen als ein Mensch auf Reisen, der an jedem Ort nur ein paar Wochen bleibt, dann wieder in einem anderen Gasthofsbette schläft und von den Städten, die er durchfliegt, nur die Kirchtürme und ein paar Straßen kennenlernt. Ich wollte mein eigenes Bett haben, das unter meinem eigenen Dache stände, und rings umher Bescheid wissen um Menschen und Dinge, und wenn es nur auf ein paar Meilen im Umkreis sein sollte.

Das alles sprudelte ich in wachsender Aufregung heraus, während mein Bruder mich mit verständnislos ironischem Lächeln wie eine halb Verrückte anstarrte. In der Verlegenheit, mir die Berechtigung zu dieser meiner Forderung mit Gründen zu bestreiten, kramte er die tausendmal widerlegten frivolen Einwände gegen Frauenstudium und das Streben des weiblichen Geschlechts nach männlichen Berufsarten hervor, immer mit der beleidigenden Kühle wie einer Unmündigen gegenüber, da doch seine eigenen Reden bewiesen, wie unreif sein Denken, wie flach seine Begriffe waren, daß ich endlich meine Besonnenheit verlor und mich zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 763. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_763.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)
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