Verschiedene: Die Gartenlaube (1897) | |
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Wie lange sie da lag, das empfand sie nicht, vielleicht waren es nur wenige Minuten, ihr war's eine Ewigkeit. In ihrem Elend, das in dem wüsten Kopf hämmerte und im Herzen brannte, mußte sie wohl überhört haben, daß die Thür leise aufging, zu ihrem Staunen – zum Erschrecken war sie zu unglücklich – begann jemand, ihr Haar zu berühren, ihren Kopf zu streicheln. Sie zuckte wohl zusammen, die Hände nahm sie aber doch nicht vom Gesicht, sie schlossen sie so gut ab von der Welt. Endlich zog sie ihr jemand von den Augen weg. Sie sah das gute Gesicht ihres Vaters, mit dem weichsten, mitleidigsten Ausdruck über sie gebeugt. Es ward ihr so wohl und so weh, nicht zum Aushalten. Ach, dachte sie, wär' ich tot!
„Hm!“ Nur so ein mitfühlendes Summen kam nach einer Weile von Vater Rutenbergs Lippen.
Sie schwieg und rührte sich nicht.
„Trudel!“ fing er nach einer großen Stille wieder an, so, wie man wohl spricht, um etwas zu sagen. „Waldecks Sohn will fort.“
„Ich weiß,“ stieß sie hervor. Ihre Glieder begannen sich wie gequält zu winden. „Ja, ja. Er soll fort! – Was mag er nun von mir denken, und von- –“ Sie zerdrückte wieder das zerknitterte Blatt. – „Laß ihn fort! Laß ihn fort!“
„Gewiß. Ich halt‘ ihn ja nicht.“ Wild kann seine alten Späße nicht lassen. „Kind! Trudel! Du weinst!“
Sie schluchzte. „O, wie schäm‘ ich mich! – Ach, sieh mich nicht an, Vater. – Nie, nie, nie will ich ihn wiedersehn! – Diesen andern mein‘ ich; den der fort ist, ‚ausmarschiert‘, den Feigling, den –“ Das Schluchzen wollte sie fast ersticken als wäre sie noch ein Kind. „Ich kann nicht mehr leben, Vater!“ rief sie, als sie wieder freien Atem hatte. „Ich kann nicht mehr leben!“
Rutenberg streichelte wieder langsam, sanft, beruhigend über ihr seidiges Haar und den heißen Kopf. „Mit siebzehn Jahren kann jeder einmal nicht mehr leben, Trudel. und doch giebt es so viele Leute über siebzehn; darum hoff‘ ich auch noch, dich zu behalten. Find‘ dich nur erst wieder zurecht –“
„Vater!“ fiel sie ihm ins Wort, „du kannst mich nicht so verachten, wie ich mich verachte! – Ich hab‘ ihn lieb gehabt, Vater! Ich hab‘ mit ihm fliehen wollen – dich verlassen, Vater! – Sei nicht mehr gut zu mir, sprich nicht mehr so freundlich mit mir, jag' mich fort. Jag‘ mich fort – aber nicht zu ihm. Jag‘ mich in den Tod!“
„Werd' mich wohl hüten, Gertrud,“ sagte Rutenberg lächelnd. „Hab‘ ich dich nicht wieder? Mein armes Mädel war blind geworden – ist nun sehend worden. Na, und wenn die Augen noch etwas wund und krank in das Licht hineinsehen, – ach, das giebt sich, Trudel. Wir halten sie noch ein bißchen in der Dämmerung …“ Er legte ihr seine großen, warmen, liebevollen Hände auf die nassen Augen. Das that ihr gut. Sie lag still. Sie schluchzte auch schon nicht mehr.
„Ja, siehst du,“ fuhr er nach einem quälenden Schweigen mit streichelnder Stimme fort, „Vater und Tochter bleiben in der Dämmerung beisammen, – als gute Kameraden, die sie immer waren und immer wieder sein werden. Und wenn wir dann die Sonne wieder leiden können, dann werden wir uns wundern, Trudel, wie herrlich sie ist! – Es giebt ja übrigens auch noch andre, junge Leute, mein‘ ich. Da steht dann vielleicht ein andrer mitten in der Sonne‘ weißt du, einer, den sie nicht ausbleicht, der ihr Licht verträgt, weil er echt ist. Und der uns so liebt, wie wir ihn lieben, der uns glücklich macht. Kann ja alles kommen, Trudel. Eilen thut's ja nicht, verhältnismäßig jung wie du doch noch bist. Aber wenn wir diesen andern haben, dann laß die Gedanken an diesen heutigen Morgen nur kommen, wir lächeln dann darüber, wie über eine zerbrochene Puppe aus der Kinderzeit, – und schauen in die Sonne!“
Gertrud nahm eine seiner Hände und zog sie an ihre Lippen. „Ach, wie bist du gut,“ sagte sie. Vor Scham schluchzte sie doch wieder auf. „du hast ihn nicht geliebt, Vater! – Ich kann nie zurück! Kann mich zu Hause nie wieder sehen lassen! Nie, Vater, nie!“
„Vielleicht doch einmal, abwarten … Es eilt uns ja nicht. Wir können ja noch reisen, wir wollten ja auch. Italien hat noch allerlei. Rom zum Beispiel, durch Rom sind wir ja eigentlich doch nur durchgefahren. Weißt du, was ich denke? Daß du meine tapfere Tochter bist, und daß es schade wäre, wenn die andern merkten, was Trudel hier erlebt hat. Daß du dich darum lieber nicht verstecken, dir das alles nicht zu sehr merken lassen solltest …“
Sie seufzte. Er verstand den Seufzer; es war ein erster Versuch, sich zu ermannen, sich zu überwinden. „Sollt‘st also lieber aufstehn, mein‘ ich. Und die Augen waschen Und dann wieder in den Speisesaal oder in den Garten gehn, wo die andern sind, wie eine Römerin und dich so furchtbar anständig, so groß benehmen, daß keiner ahnt, wie es in dir aussieht. Vornehm wär‘ das, Trudel! Ehre würd's dir machen! – Willst du‘s versuchen, Kind?“
„Ach!“ seufzte sie noch einmal. „Du glaubst nicht, wie mir ist, zum Sterben. – - Wie bist du aber gut zu mir. Ich möcht‘ immerfort deine Hände küssen – - Ach, ich will‘s versuchen!“
„Nun also! Ich geh' voraus, zu den andern. Du sammelst dich, noch ein bißchen. Wasser über die Augen, frischen Mut in die Brust. Bist ja meine Trudel. Schilcher soll sich wundern, wie schnell du wieder hoch bist. Es ist merkwürdig, was ein tapferer Mensch alles anstellen kann, mit dem sogenannten Tod im Herzen – Trudel, so lieb hast du noch nie gelächelt. – Gieb mir einen Kuß. – Du mein einziges, mein geliebtes Kind!“
Sie hob die Arme, umschlang ihn, ihre heißen Lippen lagen fest, dankbar, Tapferkeit versprechend, auf den seinen. Dann irrte seine Hand noch einmal über ihr Gesicht. Sie nickte ihm nur noch zu, sprechen mochte sie nicht. Er nickte auch und ging sacht hinaus.
Als Rutenberg in den Speisesaal kam, war dort niemand mehr, nur Pepino erschien. den letzten, verspäteten Frühstückstisch abzuräumen und meldete ihm, die Herren seien schon wieder im Garten, auf der Meerterrasse. Er ging ihnen nach. Wie gut er auch seine Leute kannte, einen Augenblick wunderte er sich, doch Schilcher schleppte eben zwei Stühle aus einer Laube auf die freie Terrasse, nahe an die Brüstung, Wild zog einen Tisch heran, Lugau hatte zwei Spiele Karten in der Hand. „Der Tisch ist gut!“ rief Wild. „Die allgemeine Situation ist gut. Lugau, fassen Sie gefälligst mit an!“
Rutenberg lachte auf, trotz all der Rührung im Vaterherzen. „So wahr ich lebe, ich glaube, ihr wollt hier Whist spielen!“
„Wo denn sonst?“ fragte Wild. „Wo kann man denn besser einen Robber machen, als hier, über dem Mittelländischen Meer, in der Götterluft, im Angesicht des Vesuv? kurz vor seinem Ausbruch? – Die andern Fremden sind alle ausgezogen, stören thut uns niemand. Apropos! wie steht es mit dem Vesuv? Soll die Komödie noch weitergehn? Oder erfolgt die Auflösung schon in dieser Nummer?“
„Gertrud weiß es schon,“ erwiderte Rutenberg. „der junge Waldeck auch, aber – der andre noch nicht. Fritz Waldeck – wo ist denn der? Wo habt ihr den gelassen?“
„Ist auf sein Zimmer gegangen,“ antwortete Schilcher, der die Stühle stellte, der Tisch stand schon da.
„Also am hellen Tag, auf einer Felsenterrasse am Golf von Neapel, da wird gespielt?“
Lugau legte die Karten auf den Tisch, breitete das eine Spiel aus. „Schlichter kann man es ja gar nicht mehr erwarten. Wir hatten uns übrigens geschworen, Wild und ich, am ersten Morgen in Sorrent zu spielen. Schilcher, Sie waren also noch am Geben, und Sie haben den Strohmann. Setzen Sie sich gefälligst, und dann geben Sie!“
„Ich gebe,“ sagte Schilcher, so trockenen Ernst auf dem Gesicht wie sonst, setzte sich und nahm die Karten. Vor innerer Unruhe rückte er aber auf seinem Stuhl, bewegte die mächtigen Brauen und forschte mit den fragenden Augen auf Rutenbergs Gesicht herum. „Nun?“ flüsterte er, als der endlich herankam und seinen Kopf gegen Schilchers Schulter neigte. „Warst du bei der Trudel?“
Rutenberg nickte und nahm ein Fädchen von Schilchers Rock, als hätte ihn das gestört. „All right?“ flüsterte er dann.
„All right?“ fragte Schilcher und begann zu geben.
„Ja. Wir haben gesiegt, Alter. Es giebt keinen Arthur mehr! Ich geh' jetzt zu Waldeck Sohn. – – All right!“
Rutenberg schlug ihm in seiner Freude auf die Schulter und ging gegen das Haus zurück.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 802. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_802.jpg&oldid=- (Version vom 9.7.2023)