verschiedene: Die Gartenlaube (1897) | |
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an ihm fremd war, erschütterte es mich so entsetzlich. In einer langandauernden Krankheit würde er wohl vor Ungeduld rasend geworden sein. Und wieder genesen, hätte er seine eigentliche Natur gewiß nicht verleugnet. Nein, es ist nicht das. Es ist nicht die Erkenntnis dessen, was noch hätte anders werden können, die mich zu Boden drückt, sondern die Erkenntnis dessen, was ich von Anfang an versäumt und verfehlt habe. Ich sage ja nicht, daß es leicht mit ihm zu leben gewesen ist – ach nein! – er hat es arg mit mir getrieben und schuldig war er wohl auch in manchem Sinn. Aber dadurch wird meine Schuld nicht kleiner. Seines Geldes wegen hab’ ich ihn genommen,während er mich liebte, hab’ mich ihm verkauft, und bei diesem Handel hab’ ich ihn betrogen.“
„Halt! Halt!“ wehrte Rettenbacher mit starker Stimme und hob die Hand. „Wohin geraten Sie! Das ist ja Selbstmord! Wem erzählen Sie eigentlich diese Dinge! Wer auf der Welt weiß besser als ich, wie sich diese unselige Geschichte, dieser ‚Handel' zugetragen hat. Wollten Sie etwas für sich? Es war ein Opfer der Kindesliebe, das Sie gebracht haben! Und nicht umsonst. Denn hat sie das Ende erlebt, auch nur die erste Fortsetzung. Hat sie nicht trotz alledem schlafen gehen dürfen mit der tröstlichen Zuversicht. Nun ist alles gut. Seines Geldes wegen hätten Sie ihn nicht genommen, denk’ ich, wenn die arme Mutter ein halbes Jahr früher gestorben wäre. Oder – Also, sehen Sie. Dies sind Krankhaftigkeiten, die Ihr alter Freund Ihnen strengstens verbieten muß. Das andre – ich kann Ihnen nicht sagen, wie es mich schmerzt, für Sie. Aber ich habe die feste Zuversicht, eines Tages werden Sie auch hierüber ruhiger denken, werden sich sagen. Was in meinen Kräften stand, habe ich gethan, über sich hinaus kann kein Mensch. Sie werden besonders dann ruhiger werden, wenn Sie Ihr Leben nicht hier in der Einsamkeit kümmerlich vergrübeln, sondern wenn Sie es in thätiger Liebe für andre weiterleben, an andern thun, was Sie an dem Verschwundenen versäumt haben. Ich meine, es läge noch ein weites Feld vor Ihnen. Geben Sie mir die Hand. Kommen Sie mit auf Ihren Platz!“
„Nein, nein!“ wehrte Hanna angstvoll ab. „Ich will nicht, ich kann nicht mehr, ich fürchte mich. Es giebt kein Glück und keinen Segen, wo ich dabei bin, das sehen Sie doch! Einem hab' ich nun schon das Leben verbittert, das ist ganz genug. Nun muß. ich allein bleiben. Lassen Sie mich – ich bitte Sie von Herzen, lassen Sie mich!“
Rettenbacher schwieg auf dieses Letzte. Es blieb nach ihrer heftigen Rede beklemmend still im Zimmer. Er war bleich und schaute mit starren Augen geradeaus an ihr vorbei.
„Sie sollten sich doch hüten,“ sagte er endlich, „vor so einem Nein. Sie sprechen von Dingen, die nicht mehr gut zu machen sei es vor Reue, die niemals schweigen werde. Sie sprechen davon, daß Sie schon einem das Leben verbittert hätten, und daß das genug sei. Das denk’ ich auch. Sie stehen nämlich im Begriff, es mit dem zweiten nicht viel besser zu machen. Wie, glauben Sie wohl, werde ich heute von Ihnen gehen, wenn Sie auf Ihrem Nein beharren! Ist Ihnen nicht ein wenig bange vor der neuen Schuld, die Sie damit auf Ihr Gewissen laden?“
Hanna erschrak besorgt nicht nur über das, was er sagte, sondern auch über den Ton seiner Stimme, über sein düsteres Gesicht. „Sie werden mich vergessen,“ stieß sie heraus.
„Glauben Sie? Mir scheint, wenn ich zu dieser Kunst einiges Talent hätte, dann hätt' ich in all den Jahren doch wohl genügend Zeit gehabt, es auszuüben. Dann stünd' ich heute nicht hier. Also die Hoffnung geben Sie nur auf. Damit ist es nichts. Die Liebe zu Ihnen wurzelt zu tief in mir, sie ist nicht mehr herauszureißen. Aber freilich – sie kann all ihre Blüten verlieren, es können Dornen dazwischen wachsen. Die hätten dann Sie gepflanzt.“ – Er schwieg einen Augenblick, das Weiterreden schien ihm schwer zu werden. – „In den Zeiten der Armseligkeit,“ fuhr er dann mit etwas gedämpfter Stimme fort, „als ich mich schinden und plagen mußte – Sie wissen, wie sehr und für wen, da hab’ ich meine Ehre dreingesetzt, zu schweigen, nichts von dem zu verraten, was mich peinigte, was ich wünschte ohne die leiseste Hoffnung auf Erfüllung. Ich hätte mich auch gescheut, Ihnen mein Herz zu zeigen, da ich von dem Ihren nichts wußte. Als dann der – andere kam, als er Sie davonführte, an mir vorbei, dem Bettelprinzen, als im Augenblick des Scheidens der dichte Schleier zwischen uns niedersank – –, da hab’ ich böse Stunden zu bestehen gehabt. Gewiß waren Sie von uns zweien am unglückchsten, ich weiß, aber leicht wurde mir mein Leben auch nicht, glauben Sie mir das! Hätt’ ich nichts zu thun gehabt, es wäre wohl anders mit mir gekommen. Zum Glück behielt ich aber keinen Augenblick Zeit, an mich zu denken, weil da jemand war, mehrere jemande, die mich brauchten, die von mir abhingen. So hab’ ich denn die Zähne aufeinander gebissen und mich nicht lumpen lassen, hab’ meinen Posten, auf den ich einmal gestellt war, nach Kräften ausgefüllt. Und als die drückende Last auf meinen Schultern gelinder wurde, als ich anfangen durfte, aufzuschauen, da war ich schon so weit, einzusehen, daß das Leben auch lebenswert sein könne, ohne daß man für sich selber Früchte pflückte. Hanna Wasenius, die Eine, hatte es nicht sein sollen – also überhaupt keine! Daß mein inwendiger Mensch noch lebte, war mir nach und nach gar nicht mehr so recht bewußt. Wenigstens redete ich mir das ein.“
Er hielt inne und hob die gesenkte Stirn. Aus seinen Augen traf sie, die ihm wie gebannt zugehört hatte, ein Blick tiefer Zärtlichkeit. „Es ist unglaublich,“ fuhr er mit einem strahlenden Lächeln fort, „was man sich alles einreden kann, wenn man sich Mühe giebt. Ich mußte mich wirklich selber auslachen, so schulbubenhaft dumm stand ich vor meinen eigenen großen Künsten da, als eines Tages die sämmtlichen Mauern umgefallen waren, mit denen das Schicksal mir mein Lebensglück hatte zubauen wollen. Hanna Wasenius war wieder da, frei von allen Fesseln, frei von dem fürchterlichen Geld, das sich noch zuguterletzt als Schanze aufgetürmt hatte. „Mein zusammengedrücktes Herz wurde plötzlich unsinnig groß, es wollte heraus aus mir, es hatte gar keinen Platz mehr. Ich mußte ihm nur drohen und drohen, daß es noch bis heute aushielte. – Und nun – wollen Sie mich fortschicken? Thun Sie das nicht! Nehmen Sie das nicht auf sich! Es endet nicht gut, glauben Sie mir.“
Hanna konnte nicht sprechen, sie war tief erschüttert. Mit fest verschlungenen Händen und bebenden Lippen saß sie da. Sie sah ihn jetzt auch nicht an, sie horchte nur; seine Stimme umspielte sie wie lang’ entbehrte Musik. Endlich hob sie einen scheuen, flehenden Blick zu ihm.
„Was könnt’ ich Ihnen jetzt noch sein?“ murmelte sie. „Ich tauge ja zu nichts mehr.“
Eine lichte Röte stieg ihm ins Gesicht.
„Was Sie mir noch sein könnten?“ wiederholte er langsam. „Das wollt’ ich Ihnen wohl zeigen, das sollten Sie bald genug wissen.“ Seine Augen strahlten sie an. – „Ich will Sie aber heute nicht mehr quälen,“ setzte er sanft hinzu, als er sah, daß sie am ganzen Körper zu zittern begann. „Ich sehe, Sie sind noch krank. Dies hat Sie angegriffen. Im Augenblick wüßt’ ich auch nichts mehr zu sagen. Denn von dem, was mir zutiefst das Herz bewegt, kann ich in Worten nicht ordentlich reden. Und was ich Ihnen sagen müßte, um Sie aufzurütteln, um Sie wachzurufen, – das hab’ ich alles gesagt. Ob Sie alles gehört haben? Ob es etwas geholfen hat? Ich weiß nicht. Aber ich hoffe.“ Er betrachtete sie einige Augenblicke schweigend. „Sie sagen mir kein Wort. Sie sehen mich auch nicht an. So muß ich also noch ein bißchen länger Geduld haben. Warum schütteln Sie den Kopf?“
„Ich fürchte, so viel Geduld giebt es gar nicht, wie Sie mit mir haben müßten,“ sagte sie ganz leise.
„Da irren Sie sich sehr,“ entgegnete er gelassen lächelnd. „Ich hatte ja schon die Geduld, es mit dem ganzen Leben ohne Sie aufzunehmen, damals, als Sie mir geraubt wurden. Und ich sollte jetzt nicht nach Hause gehen können und mich trösten: Nur noch ein Weilchen, so ruft sie, wart’s nur ab!“
Er stand auf.
„Fürchten Sie nichts,“ beruhigte er sie, als sie heftig zusammenzuckte, „Ich rühre Ihre Hand nicht mehr an, ehe Sie sie mir freiwillig geben. Für heute leben Sie wohl!“ Er hatte seinen Stuhl zur Seite gestellt und ging langsam zur Thür. Von dort aus nickte er ihr zu, etwas bleich, aber heiter.
„Ich komme wieder. Nicht morgen oder übermorgen. Erst im Herbst. Ich lasse Ihnen Zeit. Aber ich komme!“
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil's Nachfolger, 1897, Seite 883. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_883.jpg&oldid=- (Version vom 9.7.2023)