verschiedene: Die Gartenlaube (1898) | |
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hat Edith nie geliebt, der Edi – nie – nie! – Und das, was edle Charaktere vertieft, läutert, emporhebt, das entzündet in dem Herzen des ohne Liebe aufgewachsenen, von Fremden umhergestoßenen Kindes etwas Unheiliges, Düsteres. „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh oder alles was sein ist,“ das war ihr heute noch beängstigend durch den Sinn gegangen – aber jetzt?
Sie lebt, sie muß leben, sie ist ein armes adliges Fräulein; sie hat nichts gelernt als ein wenig oberflächliches Zeug, und sie will glücklich sein, will ihr junges Dasein genießen! Sie kennt den Eindruck, den sie auf den Mann dort unten gemacht, der sich in den Besitz ihres mütterlichen Stammhauses gesetzt hat, und sie wär’ doch die einzige Erbin gewesen. Gut! Sie wird versuchen, dieses angestammte Heim zurückzugewinnen, die Frau Christel dort unten zum Aufgeben ihres Platzes zu bewegen – der Edi soll sich ärgern, und wie soll er sich ärgern! Verzweifeln soll er, der Mensch, der schlechte!
Was dann wohl aus der Frau wird, der Frau, die so viel Gutes, so viel Freundlichkeiten für das vaterlose und mutterlose Mädchen gehabt, das nur aus Gnade und Barmherzigkeit eine Zuflucht fand in dem Winkel des kargen Haushalts der verarmten Tanten? Bah! Die Frau Christel ist das Arbeiten gewohnt und das Dienen, aber Edith nicht, und sie ist die Geliebte, die einzig Geliebte, sie weiß es genau seit dem Augenblick, wo er sie an sich preßte, so leidenschaftlich, so selbstvergessen – –.
Das Recht des Stärkeren nimmt sie für sich in Anspruch, wie es Brauch ist in der Welt – weiter nichts! So beschwichtigt sie ihr Gewissen. Und die Leute haben ja nicht einmal Kinder! Ja, wenn sie Kinder hätten, denen die Mutter fehlen würde – aber so? Die Sünde ist klein, und ihre Verlassenheit so groß!
Und sie wischt die letzten Thränen um Edi aus den Wimpern und legt sich auf die Seite. „Ma,“ sagt sie im Einschlafen, „Ma, ich liebe ihn, glaube es mir.“
Auf dem Gottesacker sind die Leidtragenden um das offne Grab versammelt, über dem der Sarg steht, in welchem Christels Mutter schläft; die drei Schwestern, die Pastorskinder und eine ganze Menge Leute hinter ihnen; die Männer in wunderlich altmodischen Cylindern, die Frauen mit schwarzen Kopftüchern oder Hüten. Wenn aus dem Pastorhause einer begraben wird, so geht selbstverständlich die ganze Gemeinde mit.
Draußen auf der Landstraße hält der Landauer Mohrmanns. Er ist leer dem Trauerzug nachgefahren, denn Christel hat es vorgezogen, zwischen den zwei Schwestern hinter dem Sarge zu gehen, obgleich es ein häßlicher, naßkalter Februartag ist, dieser Fastnachtsabend, an dem die alte Frau begraben wird. Ein naßkaltes Gemisch, halb Regen und halb Schnee, peitscht der Wind durch die Luft und die meisten stehen da mit aufgespannten Regenschirmen. Der Pastor spricht am offnen Grabe; es ist eine Rede mehr zur Mahnung an eine Lebendige als zur Ehrung der Toten. „Was lernen wir in den Minuten, da wir einen Dahingeschiedenen der Erde wiedergeben?“ fragt er. „Daß wir nimmer genug thun können im Lieben, so lange er unser ist, daß wir treu sein sollen gegen die, die Gott uns gab als Gefährten auf dem dornenreichen Pfad des Lebens, so lange sie mit uns wandern dürfen, seien es Eltern, Geschwister oder Gatten! Sie lehren uns, daß Trotz und böser Wille gegen unsere Lieben, die ja auch nur schwache Menschen sind und irren können wie wir, schlimme Dinge sind, die uns gar bitter weh thun können. Und noch so heiße Reue bringt nicht eine einzige Minute gemeinsamen Lebens wieder!
Liebe Gemeinde, seid freundlich zu einander, übet Geduld, damit, wenn der Tag des Scheidens kommt – und wer weiß, wie nah’ er ist – keine Reue euch klagen lässet: hätten wir doch mehr Liebe, mehr Nachsicht geübt! Ach, wenn er noch einmal neben mir stünde, nie wollten wir murren, nie ihn verlassen!“
Christel sieht den Redner unverwandt an, wie der Redner sie, aber sie schlägt die Augen nicht nieder. Was weiß er von ihren Kämpfen – was versteht er von ihrer Liebe? Hat er denn den Brief gelesen, den verzweifelten Brief Antons? – Christel weiß, was sie zu thun hat; sie wird ihren Weg gehen, unbeirrt. All die schönen Worte sind für sie inhaltsleer, denn sie passen gar nicht auf ihren Fall. Wie gern würde sie ausharren an Antons Seite, aber dann würde er unglücklich bleiben, und das könnte sie nicht ertragen. Auch ist etwas in ihr lebendig geworden, das sie bisher nicht gekannt, etwas Mächtiges, Unabweisbares – der Stolz, der gekränkte, bis aufs äußerste gekränkte Stolz der Frau, die ihre Pflicht that, immer, und nun um einer andern willen aufgegeben wird. Sie will nicht die Wirtschafterin, die Magd sein, und sollte ihr bei dem Scheiden von ihm das Herz brechen!
Wenn sie nur erst fort könnte, fort, so lange der Stolz in ihr lebendig, und wenn sie nur erst wüßte, wie sie fortkommen kann! – Das ist ihre größte Sorge augenblicklich.
„Amen!“ sagt der Geistliche jetzt. „Amen!“ wiederholt sie halblaut. Sie hat gar nicht gehört, wie das Vaterunser gesprochen wurde, obgleich ihre Lippen sich flüsternd bewegten, als betete sie mit. Nun wirft auch sie mit den andern die drei Hände voll Erde in die Gruft hinunter, die Schwestern neben ihr weinen so laut, und die Leute kommen und drücken ihr und den andern die Hände, ihr Schwager auch.
„Ich wollte, du könntest weinen, Christel,“ sagt er mild. „Die Frau soll weinen können an solchem Grabe, als ein Zeichen, daß sie sich unter Gottes Willen beugt: du weißt, Herr, wie es am besten ist, führe du mich weiter! – Aber du bist starr und kalt und deine Miene ist, wie ich sie nicht kenne an dir, trotzig. Geh’ heim, Christel, setze dich an das Krankenlager deines Mannes und nimm seine Hand in die deine, und danket beide dem gütigen Gott, daß ihr noch bei einander seid!“
Er faßt ihre Hand und führt sie dem Wagen zu; Schwester Louise und die Pastorin folgen, von teilnehmenden Frauen umringt. Christel ist es wie eine Erlösung, daß die Schwestern nicht darauf warten, sie noch im Pastorhause zu sehen; sie möchte um keinen Preis mit ihm noch einmal reden über die traurige Angelegenheit.
Am Wagenschlag, im Regen und ohne Schirm, steht auf Christel wartend – Edith von Ebradt. Der Prediger fühlt, wie die Hand der Schwägerin in der seinen zuckt, aber ihr Gesicht verrät nichts, nur um ein wenig bleicher ist’s noch geworden. Das junge Mädchen drückt ihr die Hand und murmelt ein paar teilnehmende Worte, und wie es der Tante leid sei, nicht auch der Feier haben beiwohnen zu können; sie sei erkältet und das Wetter so schlecht.
„Sehr schlecht,“ sagt Christel und sieht an ihr vorüber, „und deshalb ist es am besten, Sie steigen mit ein.“
„Gern,“ antwortet Edith, froh, ihre Kondolation angebracht zu haben, „ich wollt’ Sie gerad’ darum bitten, Frau Christel.“ Sie schlüpft sofort in die rechte Ecke des Wagens und richtet sich ein. Ich habe mir ganz gewiß einen Schnupfen geholt, denkt sie dabei, und das um eine alte Frau, die ich in meinem ganzen Leben nicht sah. Tante ist manchmal zu komisch!
Die beiden fahren heim, ohne ein Wort zu sprechen; Christel schaut aus diesem – Edith aus jenem Wagenfenster. Seit gestern abend, seit sie mit Emma von Zobel gesprochen, hat das Mädchen eine unüberwindliche Scheu vor der großen blonden Frau; sie fühlt sich überhaupt todunglücklich, bedrückt, überflüssig, halb verraten schon in ihrer Schuld. Sie springt sehr hastig auf, als man angelangt ist, sagt kurz „Adieu!“ und läuft in das Haus.
Christel folgt langsam, fragt im Flur den Diener, wie es dem Herrn ergehe, und wundert sich, zu hören, daß Fräulein von Wartau an seinem Lager sitze.
„Noch jetzt?“ fragt sie.
„Jawohl, Frau Mohrmann. Das Fräulein Baronesse kam gleich, nachdem Sie fortfuhren. Zuerst saß sie im Nebenzimmer, aber dann –“
Christel legt ruhig ihre Sachen ab, zieht das schleppende Trauerkleid aus und den grauen Hausrock an. Sie hört im Nebenzimmer die Stimme der alten Dame, aber ohne ein Wort zu verstehen, was ihr übrigens gleichgültig ist, und tritt dann ein. Auf den ersten Blick erkennt sie die nervöse Aufregung des Patienten; er ist heiß, sein Gesicht gerötet, und die Finger seiner linken Hand spielen nervös auf der Decke.
Fräulein von Wartau erhebt sich, drückt dem Kranken die gesunde Hand, spricht ein paar teilnehmende Worte zu Christel und geht dann sehr eilig. Christel tritt an das Krankenbett und fragt: „Wie geht’s dir, Anto?“
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0140.jpg&oldid=- (Version vom 30.9.2019)