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Seite:Die Gartenlaube (1898) 0168.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

unthätig, in ihre schweren Gedanken verloren bis zur Dämmerung. Nun muß sie gehen, muß ein Ende machen. Sie zieht ihren Trauring ab – er gleitet leicht vom Finger, ihre Hand ist mager geworden in den letzten Zeiten – legt ihn ebenfalls auf den Brief und dann schleicht sie hinunter. Vor Antons Thür stockt ihr Fuß; es ist eine schreckliche Qual, mit ihm allein zu sein, sie möchte es hinausschieben so lange als möglich. Sie geht deshalb nach dem Inspektorhause hinüber und redet noch einmal von A bis Z mit der jungen Frau Heine über Butter und Käse, und daß die Preise jetzt aufschlagen werden des knappen Futters wegen. Aber endlich muß sie auch dort „Adieu“ sagen. Sie sieht sich noch einmal in der Stube um, in der sie die arbeitsvollen glücklichsten Jahre ihres Lebens neben Anton verbracht hat, und dann wandert sie langsam in der Dunkelheit über den Hof ins Schloß zurück.

In Antons Zimmer ist noch kein Licht, er hat sie aber auf dem Flur gehört und ruft: „Wo steckst du denn eigentlich, Christel? Ich wollte dir noch verschiedenes sagen, was du in Dresden besorgen mußt – hast du jetzt Zeit?“

„Ja!“ sagt sie gepreßt, „aber willst du nicht erst zu Abend speisen?“

„Nein, ich danke, ich warte lieber noch.“

Sie ist eingetreten und tastet sich nach dem großen Lehnstuhl am Schreibtisch. „Willst du nicht Licht haben, Anto?“

„Nein!“ Das klingt sehr hastig, fast schroff.

Christel sitzt schweigend und abwartend da. Trotz der Dunkelheit kann sie seine große Gestalt erkennen, wie sie auf dem Teppich hin und her wandert.

„Ich habe auch einen Brief mitzugeben an Karl,“ sagt er endlich.

„Ich soll ihn mitnehmen?“ stößt sie befremdend heftig hervor. Sie weiß ja doch, es ist der Brief, der unselige Brief, der seine Beichte enthält.

„Ich kann ihn auch mit der Post schicken, wenn es dir zu viel ist,“ antwortet er erstaunt.

„Ach, gieb ihn nur,“ sagt sie jetzt gewaltsam ruhig.

„Und dann ist dort mit dem Sattler zu sprechen,“ fährt er fort, „der Kutschgeschirre wegen, der Sielengeschirre, du weißt ja. Und, bitte, gehe nach der Ofenfabrik, dort sollen jetzt Rokokoöfen ausgestellt sein; die Adresse schrieb ich dir auf. Und im übrigen wünsche ich dir nur noch, daß du ein paar nette Tage verlebst und mit keinerlei Sorge hierher zurückdenkst. Du hast zuletzt ja viel durchgemacht, Christel, du mußt mal heraus, du wirst froher wiederkehren und mich – wirst du dann ja auch anders antreffen. Was ich dazu thun kann“ – er lacht kurz auf – „werde ich ja thun, natürlich! Es ist meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit! Und nun gieb mir die Hand, Christel; wenn du wieder da bist, dann –“

Er tastet mit der gesunden Hand nach der ihrigen, heiß und fiebrig umspannt sie die kalte Linke der Frau; die Rechte hat sie auf den Rücken gelegt, der Ring fehlt ja an ihr.

„Warum zitterst du denn?“ fragt er.

„Zittere ich? Ich weiß es nicht.“

„Ja, Christel, alte gute Christel!“ Und plötzlich thut er, was er nie gethan, er kniet vor ihr nieder und legt den Kopf in ihren Schoß. Es ist, als ob ein Beben durch den großen Mann geht.

„Steh doch auf! Steh doch auf!“ sagt sie hastig, wie befehlend, „ich bitte dich, steh auf! Wir wollen uns doch nicht lächerlich machen, Anto – Komödie spielen ist für uns nicht angebracht.“

„Komödie spielen?“ wiederholt er. Eine grenzenlose Bitterkeit überkommt ihn gegen die Frau, die für das, was in seiner Seele vorgeht, so gar kein Verständnis hat. Die Reue, die Verzweiflung ließ ihn niederknieen vor ihr, und sie fragte nicht: Was drückt dich, was ist dir? Hätte sie eine einzige solche Frage gethan, er hätte ihr in dieser Minute gebeichtet wie einer Mutter, hätte sie gebeten: Bleib’ bei mir, hilf mir, laß mir Zeit – ich finde mich wieder!

Er lacht laut auf und springt auf die Füße. „Es ist wahr, Christel,“ sagt er schneidend, „wir standen eigentlich auch nie so zärtlich sentimental miteinander – hast recht, Christel; den Teufel auch! Weil du auf drei Tage nach Dresden reist, werde ich wie ein Schulbub’, der nach den Ferien von seiner Mutter Abschied nimmt und plärrt.“

Sie antwortet nicht, sie weiß ja so genau, was ihn knieen ließ vor ihr: die Reue, das mahnende Gewissen. Wenn sie eben gewollt, wenn sie seinen Kopf zwischen ihre Hände gefaßt, wenn sie den Thränen der Verzweiflung, die ihr emporquollen, hätte ihren Lauf gelassen, dann wären die gelockerten Bande wieder fest geknüpft worden – auf ein paar Wochen oder Tage, oder – Stunden, – und dann wäre der Kampf von neuem entbrannt in seinem Herzen. Und sie will kein Mitleid, will keine Geduldete sein, sie will nicht seine Qualen sehen auf Kosten ihres Rechtsgefühls, sie will nicht, sie kann nicht!

„Na also, dann können wir wohl zu Abend essen, Christel,“ sagt er forciert gleichgültig, „was hast du denn Gutes? Eine anständige Henkersmahlzeit, die versteht sich bei einem so ausgezeichneten Hausstand von selbst, obgleich der Februar ein jammervoller Monat für die Küche ist. Wir trinken am Ende eine Flasche Sekt und stoßen an auf glückliche Reise – was?“ Und dabei drückt er auf den Knopf der elektrischen Klingel. „Licht!“ schreit er den Diener an, der atemlos eintritt.

„Ich kann nicht essen,“ sagt Christel, „ich möchte dich vielmehr bitten, nicht übelzunehmen, wenn ich mich zeitig zur Ruhe begebe. Wenn du aber wünschst, will ich dir Gesellschaft leisten beim Essen, trotz meines Kopfwehs.“

„Also Kopfweh? Nein, nein, genier’ dich nicht, leg’ dich nur, ich kann allein essen, Christel!“

„Gute Nacht denn, Anto, und adieu auch gleich,“ sagt sie. „Ich habe mir in einer Kammer das Bett herrichten lassen, ich muß früh aufstehen morgen, und das stört dich, weckt dich aus dem besten Schlaf. Der Diener bleibt schon diese Nacht in der Stube neben deinem Schlafzimmer. Gute Nacht, und laß es dir gut gehen während meiner Abwesenheit, Anto!“

Sie hat sich hingetastet zu ihm, und jetzt schlingt sie die Arme um seinen Hals. „Adieu. Anto – komm’, gieb mir einen Kuß und sei nicht böse auf mich – nicht wahr, du weißt, ich meine es gut mit dir?“

„Nein, nein, ich bin nicht böse,“ antwortet er, indem er sie flüchtig küßt, „und ich weiß ja, daß du es gut meinst.“

„Dann leb’ wohl,“ flüstert sie, und auf einmal fühlt er ihre Lippen wieder auf den seinen, fest, leidenschaftlich innig, einen kurzen Augenblick nur, und dann hat sie ihn so jäh losgelassen, daß er fast schwankt.

So hat sie ihn nie geküßt.

„Christel!“ ruft er, aber die Thüre klinkt eben ein; Christel ist gegangen. Daß es ein Abschied war für immer, das ahnt er nicht.




Es ist gerade, als ob es in der Luft liege, daß etwas Unerhörtes geschehen wird. Anton kann, allein da unten, keine Ruhe finden. Er hat lange gelesen, so lange, daß ihm die Lampe ausging; nun liegt er schlaflos im Dunkeln mit wirren Gedanken. Draußen hat sich der Sturm aufgemacht und rast um das Schloß mit Pfeifen und Brausen. Es knackt im Gebälk und in den Möbeln, es ist, als ob es hinter den Tapeten raschele; die Dielen ächzen leise, als träten unsichtbare Füße auf sie. Aus dem Nebenzimmer tönt das laute regelmäßige Schnarchen des Dieners. – Der Kerl würde nicht aufwachen und wenn man eine Kanone neben ihm abschösse! denkt der einsame Mann, dem die Schulter schmerzt, denn der Verband hat sich verschoben.

Er starrt mit brennenden Augen nach oben, es kommt ihm vor, als ob dort leise Schritte gehen: Edith – Edith, die auch nicht schläft! Hätte er doch das Mädchen nie gesehen! Könnte er doch weiter so vegetieren wie bisher neben Christel, in der eintönigen Folge der Wochen und Monde! Es war so ruhig geworden in ihm, sein Herz hatte das rasende Pochen von einst verlernt; er war sich so rechtschaffen, so bieder vorgekommen und hatte Freude an seinen Erfolgen gehabt.

Und jetzt? So ging es nicht weiter, aber – was soll dann werden? Er hatte den Selbstmord immer verachtet, immer – aber in seiner Lage war es fast das einzige, was blieb!

Sollte er Christel einfach zwingen, ihre Rechte aufzugeben? Einen Streit vom Zaune brechen? Es wäre brutal gewesen. Ach ja, sie würde ihm alles, alles vergeben, sie würde dulden,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0168.jpg&oldid=- (Version vom 30.9.2019)
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