Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1899) 0267.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Und wenn ich heimkomme, wird mich nichts mehr an dieses trübe Ereignis mahnen: ich kehre nicht in mein Regiment zurück. So sehr der junge Zeuthern auch seinen Bruder verdammt, er ist eben doch immer der Bruder! Und es ist taktvoller, daß wir beide nicht Tag für Tag aus derselben Schüssel unsere Suppe geschöpft bekommen. Wie ich schon sagte: ich lasse mich versetzen.

Dieser Brief hat Dir gezeigt, wer ich zur Zeit bin: ein Reueloser, ein Unschuldiger, der einige von den Lasten eines Reuigen und Schuldigen aufgebürdet bekam.

Bei Dir hoffe ich sie abzuwerfen. Die nächste oder übernächste Post bringt Dir die kurze Kunde, wann und mit welchem Schiff ich eintreffe. Deinem Vater empfiehl mich voll Verehrung.
 Von Herzen

Dein Achim.“ 


2.

Durch den tobenden, rastlosen Lärm der Prenzlauer Straße fuhr der Straßenbahnwagen in schneller Fahrt dahin. Achim saß schon im Reisecivil in der vorderen rechten Ecke und sah gedankenlos zum Fenster hinaus. Draußen zogen, bunten, verworrenen Flecken gleich, die Häuser vorüber mit ihren prahlerischen Firmeninschriften auf weißem Grund, ihren Ladenfenstern, hinter denen die Waren aufgebaut waren. Das Auge konnte kein Bild genau festhalten, Linien und Farben wechselten zu schnell. Und wenn man die lange Straße hinauf und hinunter sah, schien sie von einem graugelben, silbrig schimmernden Dunst erfüllt. Auf dem Fahrdamm und Bürgersteig wimmelte es von Fuhrwerken und Menschen.

Das war Leben. Das Leben, von dem Achim so lange getrennt gewesen war. Aber es that seinem Auge und seinem Ohre weh. Er wünschte, alles möchte mal einen Augenblick stille stehen und stille sein. Die Stadt erschien ihm wie ein ungeheures Wesen, das nie recht tief Atem schöpft, sondern immer nur daran denkt, schnell weiterzuhetzen, sich und andere. Wozu? Warum?

Es ging ihm fast wie einem Kranken, der nach langen Wochen, in denen er nur sich gelebt, alle Vorgänge in der Welt sehr unwichtig, sehr unbedeutend findet und dem es vorkommt, als sei die frühere Anteilnahme an Menschen und Dingen nur ein eingebildetes Interesse gewesen, das man ganz gut entbehren könne.

Er hatte geglaubt, wenn er nur Berlin wiedersähe, würde ihm das frische, quellende Leben eine große Wohlthat sein. Aber nun machte ihn die Riesenstadt nervös und die trockene Mailuft, die in den Tagesstunden mit Staub und allen Dünsten der Großstadt sich langsam und ganz füllte, schien ihm unerträglich.

Er ordnete so rasch, als es irgend angängig war, seine kleinen Geschäfte. Seinen Abschied vom Regiment hatte er gestern gefeiert. Der junge Zeuthern war fern geblieben. Alle Kameraden zeigten ein besonders herzliches Bestreben, heiter und brüderlich dem Scheidenden die Stunden angenehm zu machen. Aber er selbst vermochte nicht in Stimmung zu kommen. Er sagte sich, daß es Unsinn sei, sich bedrückt zu fühlen, und fühlte sich doch so.

Auch that der Abschied weh, verzweifelt weh. Sechzehn Jahre lang hatte man in Freud’ und Leid sich Eins mit dem Regiment gefühlt, sechzehn Jahre lang mit den älteren Kameraden zusammen treu Dienst und Geselligkeit geteilt, hatte den jüngeren Nachwuchs erziehen helfen und war so fest, so fest verwachsen, daß es beinahe unfaßlich schien, sich trennen zu müssen.

Ja, wenn es eine Kommandierung gewesen wäre, die ihn zugleich mit seiner Beförderung zum Hauptmann in ein anderes Regiment versetzte! Aber so! So unfreiwillig-freiwillig! Es war ihm hart angekommen. Auch den Kameraden. Sie waren alle tief bewegt gewesen bei den letzten Umarmungen und seinen Schwüren, das Regiment nie zu vergessen und es oft besuchen zu wollen. Der Fähnrich hatte sogar geweint. Der durfte noch weinen. Er war „das Kind“.

Achim aber biß noch die Zähne zusammen in diesem Augenblicke, als er dahinfuhr, unter fremden Menschen, die neben ihm stumpfsinnig oder ungeduldig auf den blanken Bänken saßen, fortgezogen von automatenhaft trottenden Pferden durch den rohen Lärm der Straße.

Er hatte ein besonderes Ziel. Ein Gefühl, das zu übermächtig war, als daß er nur den Versuch gemacht hätte, ihm zu widerstehen, zwang ihn, das Grab seines Toten zu besuchen, bevor er noch mit dem Nachmittagszug nach Bremen abreiste.

Er fürchtete wohl, er würde, wenn ihn morgen das Schiff auf die See hinaustrug, das Bild dieses Grabes mit sich hinwegnehmen. Es würde vielleicht sein Gedächtnis empfindlich beschweren; er würde sich noch mehr belasten. Aber er mußte sehen, wo sein Toter lag.

In seinen Gedanken nannte er ihn so: „mein Toter“.

Er hatte sich genau die Stelle von Steineck beschreiben lassen. Auf dem Begräbnisplatz der Marien-Gemeinde, dicht vor dem Prenzlauer Thor, hatten Zeutherns ein Familiengrab. Seit zwei oder drei Generationen waren sie in Berlin ansässig gewesen, ärmlich stille aber vornehme Leute, die erst durch die Heirat desjenigen Zeuthern, welcher der Vater des Assessors und des Leutnants gewesen, wieder zu Geld kamen. Und dieser Zeuthern hatte ein stattliches Grab mit schönem Denkmal gestiftet, in welches er dann auch noch die Gebeine seiner Eltern und Großeltern bringen ließ.

„Man kann es gar nicht verfehlen,“ sagte Steineck, „ein hohes schwarzes Marmorkreuz steht zu Häupten; auf der großen schwarzen Marmorplatte sind die Namen sämtlicher Zeuthern beiderlei Geschlechtes in Gold eingegraben. Eine ganze Zeuthern-Genealogie.“

An der Haltestelle verließ Achim den Wagen.

Langsam ging er unter der die Straße einsäumenden Mauer des Friedhofes hin.

Die Spitzen schlank beschnittener Taxusbäume sahen über die Mauer und die gleichsam niedergequetschten Kronen von Trauereschen. Denkmäler, die sich drinnen vor der Mauer befanden, kehrten der Straße den oberen Teil ihrer Rückseite zu.

Achim dachte plötzlich, daß er doch lieber nicht hineingehen wolle. Er fand seinen Einfall, das Grab des Duellgegners zu besuchen, sentimental.

Er stand zögernd.

Der Straßenlärm grollte weiter, dicht an ihm vorbei und von fern noch sandte er seine Tonwellen. Von allen Seiten schien er zu kommen.

Und hinter jener Mauer war die Ruhe des Todes.

Es schien, als wehe Blumenduft herüber.

Dicht neben dem großen, weitgeöffneten Gitterthor stand eine kastenartige Bude. Das Schutzdach sprang weit vor und gab so viel Schatten, daß die Händlerin hinter ihrer Auslage von Kränzen und Blumentöpfen wie ein kühles, dunkles Bild wirkte.

Achim trat heran und kaufte einen Kranz, einen grünen blanken Blätterkranz mit einem großen weißen Gewinde köstlicher Blumen daran.

Er handelte wie ein Mensch, der unter einer Zwangsvorstellung steht.

Als er, noch sein Portemonnaie einsteckend, von der Bude zurücktrat, den Kranz über dem linken Arm, sich dem Kirchhofsthor zuwandte, trat eine schöne, hohe Dame, von langen Kreppschleiern umwallt, mit einer Witwenschneppe tief auf die Stirn herab, gerade heraus.

Achim erschrak. Wenn das Frau von Zeuthern wäre?

Sie ging an ihm vorbei. Nein – es war eine ältere Dame – nicht alt, aber doch jedenfalls höher in Jahren, als des Toten Gattin sein konnte.

Wenn ich vor jedem schwarzen Kleid erschrecken will, sollte ich lieber draußen bleiben, dachte Achim und machte sich klar, daß man auf Kirchhöfen naturgemäß trauernden Frauengestalten begegnet.

Er ging hinein.

Obschon der Straßenlärm nach wie vor durch die Luft ging, hatte Achim doch augenblicklich die wohlthätige Illusion der Stille ringsumher.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0267.jpg&oldid=- (Version vom 19.8.2020)
OSZAR »