verschiedene: Die Gartenlaube (1899) | |
|
Es wächst die Stadt, ihr Wuchs verschlingt
Die grüne Welt, die sie umringt.
Wo, seit am Fluß der Ort entstand,
Ein Obstwald schirmte Wiesenland,
Wo vor den Thoren sonst die Saat
Gekeimt, gegrünt, gereift zur Mahd,
Wo Tannenwald das Feld umschlossen —
Da drängte sich die Stadt hinaus,
Und wo sonst Gärten Geißblattlauben
Mit ihrer Büsche Grün umhegt,
Wo am Spalier vorm Haus die Trauben
Des Hausherrn treue Hand gepflegt,
Des Amts in sanfter Ruh’ verschlief,
Bis heller Amselgruß am Morgen
Hervor ihn zu den Blumen rief —
Da wütet mörderisch das Eisen,
Die Sträucher, Bäume hinzuraffen:
Für Steinkolosse Platz zu schaffen.
Ein Haus tritt auf des andern Saum,
Da bleibt für keinen Garten Raum!
Die grüne Welt, die sie umringt.
Jetzt, wenn der Lenz mit Blütenduft
Uns auf zur Daseinsfreude ruft,
Da heißt es, lange Straßenzeilen
Bis uns bewillkommt Wiesengrün,
Auf Baum und Strauch das lichte Blüh’n.
Doch siehe — dort, wo jenen hohen
Gebäuden, die schon unter Dach,
Gerüsten, andre wachsen nach,
Da grüßt der Rest von einem Garten,
Da ragt in stolzem Blütenflor,
Mit Aesten, schmuck wie Feststandarten,
Ein letztes Mal sich zu entfalten
In Lenzespracht war ihm gewährt,
Bald wird auch ihn die Axt zerspalten —
Bevor den Blüten Frucht beschert!
Umweben ihn mit lichtem Schein,
Es hüllen seines Duftes Fluten
Ihn sanft in Lenzesträume ein.
Noch steht die Bank, auf der sein Schatten
Auf der am Abend Kinder, Gatten
In seinem Duft sich wohlgefühlt.
Und sieh, zum Sitz, dem morschen, kommen
Zwei alte Leute, Arm in Arm —
Sie blicken traurig und voll Harm,
Indes sie Platz am Baume nehmen,
Der bebend seine Zweige wiegt,
Als schau’re ihn vor einem Schemen,
Es wächst die Stadt, ihr Wuchs verschlingt
Die grüne Welt, die sie umringt.
Das m[uß] ein liebeselig Wandern
Hinaus [z]um altvertrauten Ort,
Des kü[n]ft’gen Glückes sich’ren Hort!
Doch al[s] sie kamen her zur Stelle,
Da zäu[n]ten Hecken ein den Baum,
Und ne[b]en ihm da grüßte helle
Die Th[ü]r des Gartens fand sich offen,
Der W[e]g zum Freunde dicht umrankt,
Dort h[a]ben sie ihr höchstes Hoffen
Ihm a[n]vertraut und ihm gedankt!
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 272. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0272.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)