verschiedene: Die Gartenlaube (1899) | |
|
WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.
Ein Vorgefühl vom jähen Tod,
Der hier inmitten Grabesmauern
Dem Baume über ihnen droht.
Dem Baum, der ihnen Freund gewesen
Dess’ Gruß stets aufgefrischt ihr Wesen,
Auch dann, da längst ihr Haar gebleicht …
Als einst um ihre Stirnen flogen
Die Kinderlocken, blond und braun,
Durch offne weite Wiesenau’n;
In seiner Zweige dichter Krone
Da war ihr herrlichstes Asyl,
Dort brach er Früchte ihr zum Lohne
In seines Laubes trautem Schatten
Ward dann der erste Kuß getauscht,
Hat sie als Braut des künft’gen Gatten
Begeist’rungsworten froh gelauscht.
Voll Hochzeitsglück sich wiedersah’n,
War’s ihnen, als müßt’ Segen spenden
Der Baum für ihre Lebensbahn …
Als sie sich dann zum Rückweg wandten
Mit seinen Giebeln und Veranden
Ein lauschig Nest für stilles Glück —
Als eben sich, noch frei vom Neide,
Der Wunsch in ihrer Brust geregt:
Bald auch so traut, so grünumhegt! —
Da durften sie — o frohes Staunen! —
Erkennen, daß das Häuschen frei,
Und von den Zweigen klang ein Raunen:
Nun ganz und gar ward zum Genossen
Des eignen Lebens, frisch und jung,
Der starke Baum — sein Grünen, Sprossen
Gab ihren Kräften Trieb und Schwung.
Der goldnen Früchte Herrlichkeit,
Wie regte mächtig sich ihr Glaube
An ihres Fleißes Erntezeit.
Wenn aber gar in seine Aeste
Hinauf das Hoch des Vaters scholl,
Da gab’s ein Rauschen in den Zweigen —
Er segnete mit sanftem Neigen
Den kleinen Paten liebevoll!
Längst sind vom Kummer sie befreit,
Längst wich der Todesahnung Schaudern
Lichtbildern der Vergangenheit.
Der Duft des todgeweihten Baumes
Das Eden ihres Lebenstraumes
Ist ganz zur Wirklichkeit erwacht!
Das ist ein Leben und ein Weben,
Es blüht und duftet um sie her,
An dieser Stätte, wüst und leer.
Sie hören ihre Kinder singen,
Und seh’n sie springen hell im Chor,
Die kleinen Stimmen jauchzend dringen
Der Alten Herzen froh sich weiten —
Die einst hier klein, jetzt sind sie groß —
Was auch vernichtet all die Zeiten,
Gesegnet blieb ihr Elternlos!
Das hier nun stolzrem Baue wich —
Bei jedem ihrer Kinder wissen
Sie traut ein Heim bereitet sich …
Da rauscht’s im Baum und weckt die Alten,
Sie aber ihre Hände falten
Und geh’n vom Ort mit festem Schritt.
Doch ehe sie ihn ganz verlassen,
Da machen sie noch einmal Halt;
Des Baumes mächtige Gestalt.
Ja — so in lichter Blüten Hülle,
Mit seines Wipfels sanftem Weh’n —
Wann auch sein Schicksal sich erfülle —
Johannes Proelß.
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 273. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0273.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)