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Seite:Die Gartenlaube (1899) 0282.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

und reichte Lo’ den Arm. Bei der Thür nickte er dem Knaben lächelnd zu. „Adieu, Bubi, für ein halbes Stündchen! Laß dir die Zeit nicht lang werden … ich sorge schon für dich!“

Als sie ins Wohnzimmer traten, sah Ettingen den Tisch an und fragte erstaunt: „Aber Martin? Da sind ja nur drei Gedecke? Und wo ist der Förster?“

Keine Miene zuckte in dem ernsten Gesicht des Lakaien. „Ich dachte … doch wenn Durchlaucht befehlen …“

„Natürlich! Lege noch ein Gedeck auf und dann rufe den Förster!“ Ettingen ging mit Lo’ zum Tisch. Da sah er auf dem Gesims des Waffenschrankes ein Bild stehen, in olivgrünem, von matten Goldfäden durchzogenem Rahmen – die mit zarten Farben überhauchte Radierung nach dem Böcklinschen Gemälde.

„Ach, mein ‚Schweigen‘! Wahrhaftig! Da hab’ ich es!“ rief er mit erregter Freude. „Martin? Wann ist das Bild gekommen?“

„Gestern, Durchlaucht. Ich hab’ es ausgepackt … aber da ich nicht wußte, welchen Platz Durchlaucht für das Bild befehlen, hab’ ich es einstweilen hierher gestellt.“

„Gut! Ja! Ich danke dir, Martin!“

Der Lakai verließ das Zimmer.

Ettingen rückte das Bild ein wenig gegen das Fenster, damit es in besserem Lichte stünde. Dabei sah er nicht, daß es über Lolos Züge wie ein Schatten von Wehmut ging, als hätte der Anblick dieses Bildes eine schmerzliche Erinnerung in ihr geweckt.

„Sehen Sie, Fräulein … ein Bild, das ich liebe! Das Schweigen im Walde, von Meister Böcklin.“

Lo’ nickte.

Eine Weile standen sie beide wortlos in die Betrachtung des Bildes versunken. Dann sagte Ettingen: „Nicht wahr, ein herrliches Bild? Wie das redet in seiner Ruhe, in der Fülle seiner stummen Gedanken!“

„Ja! Das Kunstwerk eines Meisters, der nicht nur zeigen will, der auch viel zu sagen hat!“

„Und wie wenig er braucht, um viel zu sagen! Dieses karge Waldfragment – man sieht nur einige Baumstämme, fast ohne Aeste, und dennoch glaubt man den ganzen, tiefen, vielhundertjährigen Wald zu sehen. Und dieser Gegensatz der Beleuchtung: hier im Walde das Dunkel des Abends, fast schon die Nacht, und draußen in der Ferne noch der leuchtende Himmel – und sehen Sie nur, hier, diese paar kleinen und scheuen Lichter, die von draußen hereinschleichen durch die dichten Zweige … sind die nicht wie sehnsüchtige Gedanken? Wie die heißen Wünsche eines Menschen, der das grelle Licht und den wirren, schmerzenden Lärm des Tages satt bekam und nach Frieden verlangt, nach Ruhe, nach stiller Schönheit! Und wie reich der Wald das alles giebt! Ich hab’ es ja doch erlebt, an mir selbst! Dieses Schweigen im Walde, wenn draußen der schwüle Tag versinkt … wie das heilt! Wie das beruhigt! Wie schön das ist! Man hört keinen Laut, man sieht nur … und dennoch fühlt man, als hätte dieses Schweigen hundert Stimmen – jede redet zu uns und sagt uns ein neues Wort! Wie muß der Künstler allen Zauber der Waldesstille empfunden haben, um ihn so überzeugend zu verkörpern: in der ernsten Schönheit dieser Waldfee, die auf dem Einhorn reitet … gerade auf dem Einhorn! Hat dieses Tier nicht etwas Urweltliches an sich … gerade so, wie der Wald, wie alles Werden und Wandern in der Natur? Und sehen Sie nur: wie dieses Horchen auf das Ewige, das aus dem Schweigen des Waldes flüstert, wie dieses träumende Märchenlauschen aus den schönen Augen der Waldfrau redet …“

„Das? Eine Waldfrau? Eine Verkörperung aller Schönheit des von Ruhe erfüllten Waldes? Meinen Sie?“ fragte Lo’ mit beklommener Stimme. „Das kann ich nicht glauben! Nein! Ich habe das Gefühl, daß Sie in dieses Bild etwas hineinlegen, das aus Ihnen kommt … und das ist milder und freundlicher als der Gedanke dieser Gestalt. Der ist viel strenger. Ich meine, daß sich der Künstler dachte: das ist die Natur, die Natur selbst! Jetzt ruht sie und hat die Hände im Schoß … und betrachtet, was sie in den hundert Jahren, die bei ihr eine Minute heißen, geschaffen hat. In solcher Ruhe kann ihr Auge so schön blicken, so träumerisch und sinnend. Aber …“

„Ein Aber?“ fiel ihr Ettingen mit lächelndem Schreck ins Wort. „Fräulein Lo’ … ich warne Sie! Ueber diese Augen dürfen Sie mir nichts Böses sagen. Ich habe dieses Bild da immer bewundert … aber um dieser Augen willen hab’ ich es liebgewonnen. Den Blick solcher Augen … den hab’ ich gesehen, in Wirklichkeit! Den hab’ ich erlebt! Ich selbst! An diese Augen glaub’ ich ... sie sind so schön! … Aber nein! Schweigen sollen Sie deshalb nicht! Sprechen Sie, ich bitte … was wollten Sie sagen?“

Sie war befangen und vermochte nicht gleich zu sprechen. „Ich meine … gewiß, diese Augen sind schön, jetzt in der Ruhe, in dem Wohlgefallen, das die Natur an ihrer eigenen Schöpfung empfinden muß! Aber sehen Sie den Körper dieses Weibes an! Dieses Uebermenschliche an ihm! Diese ruhende Kraft! Und dieses Gesicht – es hat fast männliche Züge. Und um diesen herrischen Mund liegt etwas Gewaltthätiges und unerbittlich Grausames … es ist nur jetzt in der Ruhe gemildert … aber man fühlt es doch! Und das mußte der Künstler so zeigen … denn die Natur ist grausam, wenigstens im Sinne von uns Menschen, die wir den Schmerz so schwer ertragen, die wir leiden, wenn wir ein Herz brechen und ein Leben erlöschen sehen. Aber an der Natur ist das eine Eigenschaft wie die Schönheit, wie die Kraft, wie jede andere. Die Natur muß grausam sein, wenn sie das Verbrauchte beseitigen und das Neue schaffen, wenn sie bestehen und nicht altern will. So schön die Natur auch in der Ruhe sein kann … es redet doch immer etwas aus ihrem Gesichte zu uns wie eine unheimliche Drohung! Und so wirkt auch dieses Bild auf mich … es erweckt ein Gefühl in mir, wie Angst … wie das Bangen vor einer Gefahr, an die ich nicht glauben kann, weil ich so viel Schönheit sehe, und die mir doch schon nah’ ist!“

Sinnend betrachtete Ettingen das Bild. „Ja, Sie haben recht … jetzt, da Sie es gesagt haben, fühl’ ich es auch … Ihre Auffassung ist die richtige! Dieser harte, herb geschlossene Mund … wie der redet! Als ob er sagen möchte: sieh her, wie viel Schönheit dich umgiebt, in der Ruhe des Waldes, aber dieses lächelnde Träumen, das wird nicht mehr lange dauern … Komme nur morgen wieder, und was du heute noch siehst, das alles wird morgen verschwunden sein, gefallen im Sturm, versunken in Asche … Ja, sehen Sie nur, dieser Baum hier … der hat schon eine Wunde wie von einem Steinschlag … der Baum muß sterben! Und das Eichhörnchen, das über den Stamm hinaufklettert, wie in Schreck und Angst … ich habe nie recht begriffen, was der Künstler mit diesem Tierchen eigentlich wollte … aber jetzt versteh’ ich es! Das kleine Ding empfindet die Gefahr, die aus dem schweigenden Gesicht der Natur zu ihm redet, und weiß in seiner dunklen Angst nicht, wohin es sein winziges Leben flüchten soll! … Armes Geschöpf!“ Er schwieg eine Weile, dann sagte er plötzlich: „Schade! Da Sie den Gedanken dieses Bildes so tief erfassen … wie müßte erst das Original auf Sie wirken, mit der Kraft seiner Farbe …“

„Das hab’ ich gesehen!“

„Fräulein! Wirklich? Wo haben Sie das Bild gesehen? Und wann?“

„Vor vier Jahren, im Sommer, als Papa mich mit nach München nahm, um die Ausstellung im Glaspalast zu sehen. Da war auch dieses Bild dort … und noch drei andere Werke Böcklins, das ‚Schloß am Meer‘, die ‚Toteninsel‘ und das ‚Spiel der Wellen‘.“

„Welchen Eindruck müssen diese Bilder auf Sie gemacht haben!“

„Ja! Ich habe jenen Tag noch heute so in Erinnerung, als hätt’ ich ihn erst gestern erlebt.“ Lo’ strich mit der Hand über die Augen, und ihre Stimme wurde leiser. „Und … ich denke nicht gerne an jenen Tag … es knüpft sich an ihn eine Erinnerung, die mir wehthut.“

„Fräulein?“

„Als Papa diese Bilder sah, wurde er so seltsam still … und dann nahm er meine Hand, drückte sie, daß es mich schmerzte, und sagte: ‚Sieh her, Lo’ … was ich immer willder da, der kann es! Das ist ein Großer! Das ist Kunst!‘ Dabei hatte er Thränen in den Augen, und sein Gesicht war so vergrämt, so trostlos … er hat lang’ gebraucht, um das zu überwinden.“ Erregt und mit feuchtem Blick sah Lo’ zu Ettingen auf. „Aber nicht wahr … daß er so gering von seiner eigenen Kraft und so groß von dem Können des anderen denken konnte … das spricht doch für ihn selbst? Hochmütig ist nur der Stümper, und nur der Unfähige kann Neid empfinden. Nur wer selbst in sich das

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0282.jpg&oldid=- (Version vom 9.8.2020)
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