verschiedene: Die Gartenlaube (1899) | |
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und die Freude! Lange sah sie ihn schweigend an, als müßte sie erst ihre Gedanken sammeln, bevor sie sprechen konnte.
„Wie gut Sie mit mir sind! … Und ich stehe so arm vor Ihnen, so schwach … in meinem Schmerz zuerst … und jetzt in meiner Freude! Fast versteh ich das nicht! Diese Nachricht hätte mich ruhiger finden sollen … stark und stolz! Was mein Vater war, das hab’ ich doch immer schon gewußt! Das hat mir doch nicht die Welt erst sagen müssen! Liegt denn der Wert eines Menschen im Erfolg bei der Welt? Und ich glaube, zu jeder anderen Zeit, wann und wie diese Nachricht auch gekommen wäre … ich hätte nur lächeln können und sagen: ‚Wißt ihr es nun auch – ich hab’s schon immer gewußt!‘ Und nun hat es mich doch so überwältigt … als wär’ ich eine ganz andere geworden, ich weiß nicht, seit wann … als wäre etwas in mir, über das ich keinen Willen und keine Macht mehr habe … und das versteh’ ich nicht … das macht mich so schwach …“
Ihre Hände zitterten, sie hielt seinen Blick nicht aus, und verwirrte Unruh’ stammelte aus ihren Worten.
„Sehen Sie nur … ich weiß ja kaum, was ich rede … weiß nicht einmal, wie ich dafür danken soll, daß Sie es waren, gerade Sie, von dem ich diese Nachricht hören durfte. Und wenn ich Ihnen sagen könnte …“ ihre Stimme erlosch.
„Mir sagen, was Sie fühlen? Die Freude, die Sie empfinden, könnten Sie mir mit hundert Worten nicht besser sagen als mit diesem Schweigen jetzt!“
„Freude! Ja! Das ist Freude … die sich nicht sagen läßt! Und …“ tief atmend hob sie die Augen zu ihm, „darf ich noch eine Bitte haben?“
„Ob Sie dürfen?“ Er lächelte und drückte ihre Hände.
„Schenken Sie mir diese Blätter!“ Nun kamen ihr die Worte, immer hastiger, in glühender Erregung. „Ich möchte sie meiner Mutter bringen … und möchte heim … zu meiner Mutter! Jede Stunde, um die ich ihr diese Nachricht später bringe, ist eine Sünde an ihr! Ich darf nicht bleiben … schenken Sie mir diese Blätter und lassen Sie mich gehen! Ich bitte …“
„Ja, Fräulein, ja! Nehmen Sie …“ Er reichte ihr die Blätter. „Ich seh’ es doch ein, daß Sie nicht bleiben dürfen … jetzt nicht! Und Ihr Bruder … ich will selbst hinunter und werde sorgen dafür, daß Sie ihn gut und sicher nach Hause bringen … und daß Sie auf dem Heimweg alle Hilfe haben! Bleiben Sie nur bei ihm … ich komme dann schon und hol’ ihn!“ Er drückte noch einmal ihre Hand und eilte davon.
Sie stand und lauschte auf seinen Schritt – und lächelte und preßte die Blätter an ihre Brust.
„Lo’? Soll ich aufstehen? Ich kann schon!“ klang aus dem anderen Zimmer die erregte Stimme des Knaben.
Da flog sie zu ihm, umschlang ihn mit beiden Armen, und wieder kamen ihr die Thränen.
„Ach, Lo’! Um Gotteswillen! Ich bitt’ dich … was hast du denn?“
„Freude hab’ ich! Freude! Nur Freude … daß jetzt die Menschen wissen, was unser Vater war!“
Gustl sah die Schwester mit großen Augen an. „Haben denn das die Menschen nicht schon immer gewußt? Er hat doch die schönen Bilder gemalt! Und ein Bild, das sieht man ja doch! Da muß man doch wissen, daß ein Künstler das gemacht hat!“
„Ja, Kind, wer die rechten Augen hat, der sieht es! Aber weißt du, es giebt auch Menschen, die sehen können und dennoch blind sind! Aber komm, wir müssen heim … zur Mutter heim!“ – –
Als Gustl angekleidet war – am verbundenen Fuß nur den Strumpf, ohne Schuh – versuchte er ein paar Schritte zu gehen. Aber das gelang nicht recht. Da kam auch Ettingen schon zurück, hob den Knaben auf und trug ihn hinunter.
Vor der Thüre, im Hof, stand „Hansi“ schon bereit, gesattelt und mit hochgeschnallten Bügeln. Die Treiber hatten das Gepäck der Geschwister in ihre Rucksäcke genommen und die Almrosen darüber gebunden. Einer trug das Fischnetz mit den sorgfältig in grünes Reis gehüllten Forellen. Auch die zwei Leutascher Jäger waren zum Abmarsch bereit, Kluibenschädl schwatzte und kommandierte mit weinrotem Gesicht, und seitwärts an der Mauer stand Pepperl, schweigsam, die Hände hinter dem Rücken, die gerunzelte Stirn umhangen von aufgedröselten „Kreuzerschneckerln“.
Nur Mazegger fehlte. Drunten in seiner Hütte stand er am Fenster, das aschfahle Gesicht an die Scheibe gedrückt. Als er seinen Herrn, der den Knaben trug, und das Mädchen aus der Thüre kommen sah, trat er mit geballten Fäusten tiefer in die Stube zurück.
Ettingen hob den Knaben in den Sattel und schob ihm die Bügel an die Füße. „Na also, Bubi, jetzt mach’ uns keine Sorgen mehr, und schau, daß du gut heimkommst!“ Er reichte ihm die Hand.
„Ich dank’ schön, Herr Fürst! Sie waren so lieb zu mir! Ich dank’ schön!“
Lachend streichelte ihm Ettingen die Hand. „Dank? Was dir einfällt! Sieh nur, daß du bald wieder springen kannst – das ist mir der liebste Dank! Und wenn es deine Mutter dann erlaubt, dann komm ein paar Tage zu mir auf Besuch ins Jagdhaus! Willst du?“
Gustl wurde rot übers ganze Gesicht. „Wenn Sie erlauben, bin ich schon so frei!“
„Also, auf Wiedersehen!“
Ettingen wandte sich zu Lo’. Inmitten der vielen Leute, die um sie herstanden, schieden die beiden mit einem Händedruck, mit einem stummen Blick.
Ein Jäger sollte den Grauen führen. Aber Lo’ überließ diese Sorge keinem anderen, sie nahm die Zügel selbst.
Während „Hansi“ den Knaben über das Almfeld hinuntertrug, umringt von den schwatzenden Treibern und Jägern, stand Ettingen mit den Armen über den Zaun gelehnt und blickte lächelnd dem kleinen Reiter und seiner Schwester nach.
Den beiden folgten noch zwei andere Augen – aus Mazeggers Hütte – mit einem Blick, in dem die Eifersucht mit drohendem Feuer brannte.
Wo der Pfad vom Almfeld einbog in den Wald, bat Lo’ die Männer, vorauszugehen, damit der Graue in ruhigen Schritt käme. Sie verhielt das Tier eine Weile und blickte mit leuchtenden Augen zum Fürstenhaus hinauf. Da hörte sie den Bruder flüstern: „Du, Lo’? Weißt du, warum er so lieb war zu mir?“
„Weil er gut ist!“
„Ja, schon … aber noch wegen was! Weißt du warum?“
Sie sah zu ihm auf.
„Weil er dich lieb hat!“
Wie eine Flamme schlug es über ihre Wangen, doch heftig schüttelte sie den Kopf.
„Aber ja!“ behauptete Gustl in heißem Eifer. „Hast du denn das nicht gemerkt?“
„Nein, nein, nein …“ stammelte sie erschrocken und zog den Grauen in den Wald.
„Nicht? Das hast du nicht gemerkt? Hör’, Lo’, dann bist du aber auch eine von denen, die sehen können und doch blind sind! Ja! … Sieh nur, Lo’, er schaut dir noch immer nach!“
Längst schon waren sie im dunklen Schatten des Waldes verschwunden – und immer noch stand Ettingen über den Zaun gelehnt. Eine Weile hörte er noch die Stimmen der Männer aus dem Thal herauf. Dann verstummten auch die. Nur der Wildbach rauschte dort unten, sanft und heimlich, durch den Wald gedämpft. Helle, stille Sonne über dem Almfeld, über den Hüttendächern und allen Bäumen. Ein paar silberne Fäden flogen, und schwärmende Insekten huschten gleich winzigen Funken durch die blaue Luft.
Plötzlich ging ein Dröhnen durch das stille Thal hin, wie von einem mächtigen Donnerschlag mit rollendem Echo.
Erstaunt sah Ettingen zum wolkenlosen, sonnigen Himmel auf und über das leuchtende Thal hinaus. Da gewahrte er, daß über dem Wildbach drüben, am Fuß der steilen Hochwand, brauner Staub in dichten Wolken aufwirbelte. Ein Stück der Felswand hatte sich gelöst und hatte eine Zunge des sonnigen Waldes unter Schutt begraben.
„Wie das so kommen kann? Die Zerstörung … so mitten in der Stille, in friedlicher Sonne?“ Mit ernstem Sinnen nickte er vor sich hin, während da drüben der Staub verdampfte. „Das Schweigen im Walde! … Ja! So redet dieses Bild! Sie hat recht gesehen!“
Die Küchenmagd, der Lakai und die Köchin kamen aus dem Haus gerannt, um zu sehen, was es gegeben hätte.
Aber drunten bei der Sennhütte und bei dem Jägerhäuschen, da rührte sich niemand, da trieb die Neugier oder die Sorge
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 286. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0286.jpg&oldid=- (Version vom 12.8.2020)