verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 12 | |
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Versammlungen hat jeder, der sich wissenschaftlich mit irgend einem Zweig der Naturwissenschaft und der Medizin beschäftigt hat; aber stimmberechtigtes Mitglied ist nur ein solcher, der sich, abgesehen von der Inauguraldissertation, noch als naturwissenschaftlicher Schriftsteller bekannt gemacht hat. Die Versammlung hatte bis 1887 kein Vermögen, keinen bleibenden Vorstand, keinen festen Wohnsitz; doch sind für die Zukunft Abänderungen geplant. Der Ort der Versammlung und die Geschäftsführer derselben werden jedesmal für das folgende Jahr im voraus erwählt. Es finden öffentliche Sitzungen und Sitzungen der Sektionen statt, deren Zahl bei der zweiten Berliner Versammlung (1886) bereits auf 30 gestiegen war. In neuerer Zeit haben sich die Vertreter mehrerer Disziplinen, wie z. B. die Meteorologen, Anthropologen u. a., zur Abhaltung besonderer Jahresversammlungen vereinigt.
Naturforschung, im allgemeinen jede Beschäftigung, welche den Zweck hat, unser Wissen von der Natur zu vermehren, im höhern Sinn aber besonders die Erforschung der Gesetze, nach denen die Veränderungen in der Natur stattfinden, der Naturgesetze. Sind solche Gesetze vollständig bekannt, so verlangen sie einen mathematischen Ausdruck; man kann daher die Mathematik die Gesetzgeberin der Natur nennen. Die Naturwissenschaften sind aber noch keineswegs überall im stande, die mathematischen Naturgesetze aufzustellen. Am vollständigsten ist das der Fall in der Astronomie seit den Entdeckungen von Kepler und Newton. Auch die Mechanik gründet sich auf Mathematik, ebenso ein Teil der Physik, Chemie und Physiologie, und die Darwinschen Untersuchungen haben einen nachhaltigen Anstoß gegeben, um auch bei der Betrachtung des organischen Lebens mechanische Prinzipien in Anwendung zu bringen. Freilich liegen hier die Verhältnisse so verwickelt, daß ihre Ergründung und Zurückführung auf einfache Zahlenwerte ungleich schwieriger sein müssen. Während nämlich bei der Bewegung der Himmelskörper zunächst eine Naturkraft, die Schwerkraft oder Gravitation, so in den Vordergrund tritt, daß wir ohne wesentlichen Fehler von den übrigen Naturkräften absehen können, sind bei den tellurischen Vorgängen, wie z. B. im Leben der Organismen, der ganze Komplex der Naturkräfte, wie Wärme, Licht, Elektrizität, Magnetismus, die chemischen Affinitäten und physikalischen Molekularkräfte, zugleich thätig und zwar so, daß wir keine dieser Kräfte in ihrer Wirkung unbeachtet lassen dürfen. Dazu kommt noch, daß wir die letztern, bei Berührung der Teilchen zur Wirkung kommenden Kräfte noch nicht mathematisch ableiten können. Alles, was sich nach mathematischen Formeln ableiten läßt, was also naturwissenschaftlich erklärbar ist, besteht in Raumveränderungen, d. h. Bewegungen. Einer der ersten und unabweislich notwendigen Grundsätze unsrer Vernunft, ohne den wir nicht den geringsten Gedanken zu fassen vermögen, ist der Grundsatz der Kausalität, d. h. die notwendige Voraussetzung, daß jede Veränderung ihre Ursache haben müsse. Damit hängt innig zusammen der Grundsatz der Beharrlichkeit von Masse und Kraft, d. h. die Vorstellung, daß jedes Ding so lange genau in demselben Zustand der Ruhe oder der Bewegung verharrt, bis eine neue Ursache hinzutritt, und daß von der vorhandenen Masse und Kraft nichts verloren geht, daß aber auch nichts hinzukommt. Sehen wir also eine Veränderung des Zustandes der Körper, so kommen wir auf die Vorstellung der Ursache dieser Veränderung. Die nach mathematischen Gesetzen wirkenden Ursachen nennen wir Naturkräfte (s. d.). Wo die elementaren Naturkräfte alsdann in psychische übergehen, also in der Psychologie, hat man der N. eine letzte Grenze stecken und ein „ignorabimus!“ aussprechen wollen, welches jedoch auf lebhaften Widerspruch gestoßen ist; ebenso ist die auf einer der letzten Naturforscherversammlungen ausgesprochene Forderung einer Selbstbeschränkung der Forschung, gegenüber gewissen kühnen Folgerungen der Neuzeit, mit einer energischen Betonung der Freiheit der Forschung und ihrer Lehre beantwortet worden. Vgl. Du Bois-Reymond, „Über die Grenzen des Naturerkennens“ und „Die sieben Welträtsel“, zwei Vorträge (neue Ausg., Leipz. 1884); Virchow, Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat (Berl. 1877); Häckel, Freie Wissenschaft und freie Lehre (Stuttg. 1878).
Naturgefühl, die Empfänglichkeit für das Schöne, Erhabene und die verborgene Gesetzmäßigkeit der Natur, welche bei den einzelnen Völkerstämmen und in verschiedenen Zeitepochen den mannigfachsten Wandlungen und Kultureinflüssen unterliegt. Man hat in neuerer Zeit behauptet, daß das N. eine neuere Errungenschaft und ein Erbteil des germanischen Geistes sei, welches den Romanen und andern Stämmen mehr oder weniger abgehe; doch zeigt schon eine geringe Vertiefung in die Weltlitteratur, daß diese Ansichten unhaltbar sind, und wenn z. B. die Alpenlandschaft erst seit wenigen Jahrhunderte Besucher anzieht, so haben die verbesserten Wege und gewisse Kulturbedürfnisse ihren wesentlichen Anteil dabei. Bereits in der Dichtung Altindiens, namentlich aber bei Kalidasa, spricht sich ein überaus lebhaftes N. aus, das Buch Hiob bezeugt, daß dasselbe den Semiten nicht mangelte, die zu Delphi gesungenen Frühlingspäane und zahlreiche Schilderungen griechische Dichter und Prosaiker von Homer an lassen die Stärke desselben bei den Griechen erkennen, was ja auch bei dem engen Anschluß ihrer Religion an Naturkultus nicht anders erwartet werden kann. Im spätern Rom machte sich, wie in jeder sich verfeinernden Kultur, zunächst eine Abkehr von der Natur fühlbar, der im Gegensatz zu dem naiven N. der Naturvölker ein sentimentaler Rückschlag folgte, eine erkünstelte Übertragung des Naturgefühls, welche sich in der Vorliebe für bukolische Dichtungen, gekünstelte Gärten- und Villenanlagen kundgab, wie sie der jüngere Plinius in seinen Briefen schilderte und in Hadrians Villa (s. d.) zu Tivoli mit allem Raffinement (Tempethal) verwirklicht ward. Von den germanischen Stämmen hat man daher auch behauptet, ihr N. sei noch frischer, weil sie nicht durch eine so alte Kultur hindurchgegangen wären. Das aufsteigende Christentum wirkte in gewisser Weise auf Ertötung des Naturgefühls hin, sofern seine Verkünder die Natur als mit dem Fluch behaftet und die Freude selbst nur am Nachtigallgesang als Sünde und Ableitung von der notwendigen Buße hinstellten und die Schönheit des Paradieses auf Kosten des irdischen Jammerthals erhoben. Das Jahrhundert der Entdeckungen belebte dann das N. durch die Schilderungen der Üppigkeit fremder Zonen, die schon Kolumbus, der mehrmals das irdische Paradies entdeckt zu haben glaubte, begeistert pries. Es begann eine Zeit der romantischen Naturbegeisterung, die sich namentlich in den farbenprächtigen Schilderungen des Calderon und in den „Lusiaden“ des Camoens ausprägte. Die Erhebung der Landschaftsmalerei (s. d.) zur selbständigen Kunst im 16. und 17. Jahrh. darf als äußeres Zeichen der damaligen gesunden
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 12. Bibliographisches Institut, Leipzig 1888, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b12_s0011.jpg&oldid=- (Version vom 24.2.2022)