Zum Inhalt springen

Seite:Meyers b12 s1021.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 12

Diese äußerste Konsequenz des Skeptizismus, welche dem Empirismus und dessen in Frankreich unter den Encyklopädisten herrschend gewordenen Absenkern, dem Sensualismus (Condillac 1715–80) und Materialismus (Holbach, Lamettrie), wissenschaftlich ein Ende machte, wie dieser es dem (Cartesianischen) Rationalismus bereitet hatte, weckte den „Pförtner“ der neuern deutschen (d. h. der einzigen wirklichen) P. aus seinem „dogmatischen Schlummer“. Der Leibnizsche optimistische Rationalismus war von dessen Nachfolger Chr. Wolf (1679–1754) zu einem weitläufigen System verarbeitet, aber zugleich durch die (inkonsequente) Aufnahme der äußern Erfahrung als Wissensquelle in einen halben Empirismus verwandelt worden, wie er der dilettantischen Weise der Popular- und Aufklärungsphilosophie in Deutschland entsprach. Erst Kant (1724–1804) sah ein, daß fortan allen Erkenntnisversuchen die (transcendental-kritische) Frage nach der Tragweite des Erkenntnisvermögens vorausgehen und zu dem Ende das wirklich (vor aller Erfahrung, a priori) in demselben enthaltene (rationale) Wissen von dem durch Erfahrung a posteriori erworbenen (empirischen) gesondert werden müsse. Kants „Kritik der reinen Vernunft“ hat durch den Nachweis, daß von den sogen. übersinnlichen Gegenständen (Gott, Welt, Seele), welche das Hauptthema der Metaphysik des Rationalismus bildeten, kein Wissen möglich sei, ein negatives, durch den Erweis dagegen, daß mittels der apriorischen Elemente des Erkenntnisvermögens (reine Anschauungsformen des Raums und der Zeit, Kategorien des Verstandes, Ideen der Vernunft) von den sinnlichen Gegenständen (Erscheinungen) eine allgemeine Erfahrung möglich sei, ein positives Ergebnis geliefert. In Bezug auf die letztere unterschied Kant ein subjektives (aus dem Subjekt) und objektives (aus dem Objekt der Erfahrung, dem „Ding an sich“, dessen Dasein auf dem Schluß von der Empfindung als Wirkung auf dasselbe als dessen übrigens unbekannt bleibende Ursache beruht, stammendes) Element, wodurch er den Anlaß zu der Spaltung seiner Nachfolger in eine idealistische und realistische Richtung gegeben hat. Jene wurde von J. G. Fichte (1762 bis 1814), welcher das „Ding an sich“ als eine Inkonsequenz beseitigte, diese von Herbart (1776–1841), welcher demselben nicht bloß den (realen) Anstoß zur Empfindung, sondern auch zu den von ihm wieder als objektiv reklamierten Formen des Raums und der Zeit zuschrieb, in direkter Fortführung der von Kant gegebenen Anregung eröffnet, während F. H. Jacobi (1743–1819) mittels des (angeblich) untrüglichen Gefühls den Rückweg zu dem von Kant ausgeschlossenen Übersinnlichen suchte. Nach der Beseitigung des Dinges an sich blieb auf der Seite des Idealismus das (transcendentale) Subjekt allein übrig; nach der Beseitigung der Idealität der reinen Anschauungsformen (Raum und Zeit) stand auf der Seite des Realismus dem Subjekt eine dem Sein und der Form nach objektive Welt gegenüber. Der Inhalt seines Bewußtseins konnte dem erstern nicht weitergegeben, sondern mußte von diesem gemacht werden; letzterm wird seine Erfahrung nicht (wie bei Kant) nur dem Stoff (als unverbundene), sondern[WS 1] dem Stoff und der Form nach (als verbundene Empfindung) gegeben. Die Aufgabe des Idealismus besteht darin, die Erfahrung (ohne Anstoß von außen) aus sich zu produzieren; die des Realismus darin, die ihm (von außen) gegebene Erfahrung, wenn sie Undenkbares enthält, nach den Anforderungen der Logik zu rektifizieren. Die Produktion aller möglichen Erfahrung a priori (mit Ausschluß der Erfahrung) ward die Sisyphusarbeit des Idealismus. Die Wissenschaftslehre Fichtes konstruierte den Inhalt des Selbstbewußtseins, die Naturphilosophie Schellings (1775–1854) jenen des unbewußten Seins (der Natur) a priori. Des letztern transcendentaler Idealismus konstruierte den Inhalt des absoluten Seins als bewußtlosen (Natur-) und bewußten (Weltgeschichte, an deren Ende „Gott sein wird“). Schellings Identitätsphilosophie versuchte nach dem Beispiel Spinozas Natur und Geist als die identischen Seiten des Einen Absoluten darzustellen und den Monismus der Substanz mit der Platonischen Ideenlehre zu verschmelzen. Hegel (1770–1831) glaubte nicht nur mittels der von ihm so genannten dialektischen Methode den Inhalt der reinen Vernunft, welche das einzige wahrhaft Wirkliche und das einzige Wissen ist, erschöpft und den Lieblingswunsch Kants, ein „Inventarium der reinen Vernunft“, durch die Reihe seiner Kategorien zur Erfüllung gebracht zu haben, sondern er wandte diese Methode auf die Vernunft als (logische) Substanz selbst an, um sie durch Selbstentäußerung in Natur und durch Selbstzurücknahme in absoluten Geist zu verwandeln, „die Substanz zum Subjekt zu erheben“ (Panlogismus). Dieser „Pantheismus der Vernunft“ gab nach Hegels Tode die Veranlassung zur Spaltung seiner Schule in eine rechte (theistische) und eine linke (atheistische) Seite, während das Zentrum am Pantheismus festhielt. Gleichzeitig aber wurde durch die inzwischen erstarkten Erfahrungswissenschaften gegen den Apriorismus, der dieselben entbehren zu können wähnte, ein berechtigtes Mißtrauen, von seiten der Fromm- wie der Freigesinnten gegen den Optimismus, der alles „Wirkliche“ vernünftig fand, eine nicht grundlose Opposition laut. Jene setzten dem Rationalismus, der nur den Begriff (das Allgemeine) für Wissen gelten läßt, den Empirismus entgegen, der nur in der Anschauung (der Einzelwahrnehmung) Wahrheit findet. Von diesen wiesen die Frommen auf die Existenz der Sünde und des Bösen, die Freigeister auf jene des Dummen und Widervernünftigen in der Welt hin. Der Materialismus stellte dem Rationalismus die äußere, der Pietismus die innere Erfahrung entgegen; Baaders (1763–1835) Theosophie und Schellings positive P. machten sich zu Verteidigern der Sündhaftigkeit, Schopenhauers (1788–1860) Pessimismus zum Anwalt der Schlechtigkeit der thatsächlichen Welt. Letzterer hat neben dem Materialismus das große Wort in der Gegenwart gewonnen und durch seine schriftstellerische Originalität über den unvermittelten Widerspruch zwischen der „Welt als Vorstellung“ (purer Idealismus) und „Welt als Wille“ (naiver Realismus) hinweggetäuscht. Neben ihm hat sich in Frankreich der alles Wissen von Immateriellem ausschließende Sensualismus in der „positiven“ P. Comtes (1798–1857), welcher auch die Psychologie in „Biologie“ und „Phrenologie“ aufgehen läßt, in England der Empirismus Lockes in der „induktiven“ P. John Stuart Mills (1806–73) geltend gemacht, während in Deutschland das Studium der Physiologie der Sinnesorgane hervorragende Naturforscher (Helmholtz, Rokitansky, Zöllner) zu einem dem Kantschen verwandten kritischen Idealismus zurückgeführt hat. Nach ihm hat in Deutschland E. v. Hartmann durch seine (an Schellings Naturphilosophie mahnende und an dessen „positive“ P. sich anschließende) „P. des Unbewußten“, welch letzteres Hegels „Idee“ und Schopenhauers

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: sonderm
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 12. Bibliographisches Institut, Leipzig 1888, Seite 1021. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b12_s1021.jpg&oldid=- (Version vom 7.2.2022)
OSZAR »