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Seite:Meyers b13 s0042.jpg

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 13

Naturphilosophen etwas eingedämmt und der Erfahrung eine größere Bedeutung für die Würdigung der Lebenserscheinungen zuerteilt zu haben. Erst Aristoteles (384–322) hat mit der erforderlichen Objektivität physiologische Thatsachen gesammelt, zahlreiche Beobachtungen angestellt, mancherlei Entdeckungen von Bedeutung gemacht und das Ganze mit seltenem Scharfsinn in ein System gebracht, welches trotz zahlloser unrichtiger Behauptungen und sonstiger Mängel lange Zeit hindurch unter dem Namen der Aristotelischen P. sich erhielt. Aristoteles suchte die Lebensvorgänge im Zusammenhang zu erklären, allerdings auf Grund einer Zweckmäßigkeitslehre, die jeden exakten Boden vermissen läßt. Man kann Galenos (131–200) als denjenigen bezeichnen, der die P. zuerst zum Rang einer selbständigen Wissenschaft zu erheben trachtete. Er bildete die P. als die Lehre vom Gebrauch der Organe aus und stellte sich zahlreiche Fragen, die er durch Tierversuche beantwortete. Er beschrieb und erklärte die Funktionen methodisch und so vollständig, wie das zu seiner Zeit überhaupt möglich war. Sein genialer Geist errichtete ein Gebäude, das durch Scharfsinn und Geschlossenheit imponierte, und das fast 1½ Jahrtausende hindurch in voller Geltung sich erhielt, ein Erfolg, wie er in der Geschichte der Wissenschaften ganz einzig dasteht, und der nur erklärt werden kann aus dem Umstand, daß Galenos den Anforderungen der Ärzte wie denen der Geistlichen im gleichen Grad gerecht wurde. Preisen ihn erstere wegen seines Materialismus, so thaten die andern dasselbe wegen seiner teleologischen Auffassung. Denn so sehr Galenos bemüht war, die Lebensvorgänge auf natürliche Ursachen zurückzuführen, so erblickte er doch überall eine gewollte Zweckmäßigkeit und bewunderte deshalb die Weisheit des Schöpfers. Die Macht der physiologischen Scholastik Galenos’ geriet erst ins Wanken, als Paracelsus (1493–1541) durch die Originalität seiner Ideen die Medizin neu belebte und zum erstenmal die P. in deutscher Sprache lehrte. Mit noch größerer Schärfe trat Helmont (1577–1644) gegen Galenos auf, doch vermochten beide Männer trotz erheblicher Fortschritte keine gründliche Reform der P. herbeizuführen. Erst Harvey (1578–1657) war es vorbehalten, durch die Entdeckung des Blutkreislaufs die Grundlage für eine methodische Experimentalphysiologie zu schaffen, welche die P. zum Rang einer exakten Wissenschaft erheben und den altersgrauen Lehrsätzen Galenos’ die Herrschaft entreißen sollte. Hatte zwar schon letzterer mit Hilfe des Tierexperiments manche wichtige Thatsache ermittelt, so waren derartige Versuche doch so gut wie völlig in Vergessenheit geraten, und ein blinder Autoritätsglaube beherrschte fast 1½ Jahrtausende hindurch das Gebiet der P. Erst Harvey wies in überzeugender Weise nach, daß das Experiment das wichtigste Hilfsmittel physiologischer Forschung sei, und durch die streng logische Methode, mit der er auf experimenteller Grundlage vorging, hat er wahrhaft reformatorisch gewirkt. Es ist bezeichnend für den Scharfsinn des Reformators, daß die im J. 1628 gegebene Darstellung seiner Entdeckung des Blutkreislaufs sachlich und formal auch heute noch als korrekt angesehen werden kann. Die neue Richtung wurde wesentlich gefördert durch Descartes (1596–1650). Sein umfassender Geist erkannte zuerst, daß die lebenden Wesen physisch als Maschinen aufzufassen seien; er lehrte zuerst, daß die Wärme im Körper selbst gebildet werde; er sprach zuerst von Reflexbewegungen. Außerordentliche Verdienste besitzt Descartes weiter um die Förderung der Sinnesphysiologie, er bereicherte die physiologische Akustik und führte die Akkommodation des Auges auf Formveränderungen der Linse zurück. Einen sehr namhaften Fortschritt bekundet noch die scharfsinnige Art und Weise, mit der Borelli (1608–79) die exakten Untersuchungsmethoden und Lehrsätze Galileis auf die Ortsbewegungen der Tiere in Anwendung brachte.

Leider beharrte die P. nicht auf der exakten Bahn, der sie so hervorragende Fortschritte zu verdanken hatte; sie wurde bald der Sammelplatz aller möglichen Hypothesen, und sie konnte nur durch den klaren Geist und das umfassende Wissen eines Haller (1708 bis 1777) vor weiterm Verfall geschützt werden. Hat zwar Haller auch als Forscher Großes geleistet, so liegt seine eigentliche Bedeutung doch mehr darin, daß er mit scharfem Verstand ein erstaunliches Wissen verband. Er beherrschte die ganze physiologische Litteratur und hat sich durch eine scharfe Kritik und Zusammenfassung der bis dahin überhaupt ermittelten Thatsachen bleibenden Ruhm erworben. Er gab die erste vollständige Darstellung der P. auf streng naturwissenschaftlicher Basis. Nochmals indessen sollte die P. eine Periode durchlaufen, in der wüste Spekulation über nüchterne Objektivität siegte. Trotzdem Spallanzani (1729–99) die Verdauungslehre, Hales (1677–1761) die Lehre vom Blutdruck und von der Saftbewegung in den Pflanzen begründeten, trotzdem der Holländer Ingen-Houß (1730–99) die Atmung der Pflanzen und die Aufnahme der Kohlensäure durch die Pflanzen entdeckte, trotzdem durch die Entdeckungen Priestleys und Lavoisiers die Basis für eine Theorie der Respiration geschaffen wurde und Bell (1774–1842) die fundamentale Thatsache von der funktionellen Verschiedenheit der vordern und hintern Rückenmarksstränge ermittelte, trotzdem Galvani (1737–98) die tierische Elektrizität entdeckte, neigte die P. mehr und mehr nach der spekulativen Seite hin, und Physiologen der damaligen Zeit, wie Reil, Blumenbach, Burdach und Oken, sind ausgesprochene Naturphilosophen.

Erst durch die vielseitige Thätigkeit Johannes Müllers (1801–58) sollte die P. ihre moderne exakte Grundlage erhalten. In wahrhaft genialer Weise wußte er die Methoden der exakten Naturwissenschaften mit der vergleichenden Anatomie und der Entwickelungsgeschichte zu verbinden und wurde auf diese Weise der Vater der vergleichenden P. Johannes Müller steht in der Geschichte der P. unerreicht da, und Preyer sagt ihm mit Recht nach, daß er das Wissen des Aristoteles mit dem systematisierenden Sinn Galenos’, das methodische Forschen Harveys mit dem eisernen Fleiß Hallers verband. Nunmehr begann auf physiologischem Gebiet allerwärts ein Schaffen, welches die schönsten Früchte zeitigte und durch die von Magendie (1783–1855), Flourens (1803–1873), Claude Bernard (1813–78) und Ludwig begründete moderne Experimentalphysiologie ganz wesentlich gefördert wurde. Schwann (1810–82) und Schleiden (1804–81) begründeten die Zellenlehre, der die P. zahlreiche Anregung zu dem fruchtbringenden Schaffen verdankt. Der Arzt Robert Mayer (1814–78) entdeckte das mechanische Wärmeäquivalent, welches erst der P. eine streng mathematische Grundlage geben konnte. Chladni, vor allen Dingen jedoch Helmholtz, begründeten die Lehre von den Tonempfindungen, und letzterer wirkte auf dem Gebiet der Lehre von der physiologischen Optik geradezu revolutionär. Fechner begründete die Psychophysik, Du Bois-Reymond die Elektrophysiologie.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 13. Bibliographisches Institut, Leipzig 1889, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b13_s0042.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2022)
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