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Seite:Meyers b13 s1012.jpg

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 13

Denn in allem, was die Form angeht, Harmonie, Reichtum des Rhythmus, Eleganz und Reinheit des Ausdrucks, leistete R. Vollendetes; aber die Gedanken sind fade, oft dunkel durch ein Übermaß mythologischer Anspielungen, zum Teil geradezu falsch. Seinen Oden fehlt der Schwung, seinen Psalmen das heilige Feuer, seinen Episteln die gleichmäßige, ruhige Stimmung, seinen Allegorien jede Wahrscheinlichkeit; Laharpe nennt sie zum Sterben langweilig. Seine Komödien und Operntexte sind teils nicht aufgeführt worden, teils verdientermaßen gefallen. Nur seine Epigramme, in welchen er seinem Herzen voll Gift und Galle Luft machen konnte, gehören in ihrer knappen Form und scharfen Pointierung zu den vorzüglichsten ihres Genres. Die letzte Ausgabe seiner Werke veranstaltete Amar (Par. 1820, 5 Bde.). Seine „Lettres sur différents sujets de littérature“ erschienen Lyon 1750, 3 Bde.; seine „Œuvres lyriques“, mit einem Kommentar, gab Manuel (Par. 1852), „Contes inédits“ Luzarche (Brüssel 1881) heraus.

2) Jean Jacques, berühmter franz. Schriftsteller und Philosoph, ward 28. Juni 1712 zu Genf geboren. Seine Mutter, die Tochter eines evangelischen Predigers, starb schon bei seiner Geburt, und der Vater, ein geschickter Uhrmacher, kümmerte sich nicht viel um die Erziehung seines Sohns, der in seiner Lesewut alle Bücher verschlang, deren er habhaft werden konnte, am liebsten aber die Romane des 17. Jahrh. und Plutarchs Lebensbeschreibungen las. Als sein Vater eines Ehrenhandels wegen aus Genf flüchten mußte, brachte man den zehnjährigen Knaben aufs Land zum Pastor Lambercier, wo sich sein tiefes Gefühl für die Herrlichkeit der Natur entwickelte, dann wieder nach Genf zu seinem Onkel Bernard, der ihn zuerst in das Büreau eines Anwalts, dann zu einem Kupferstecher in die Lehre brachte. Aber sein unsteter Sinn und harte Züchtigungen infolge seiner schlechten Streiche trieben ihn aus Genf; nach mehrtägigem Umherirren kam er nach Consignon zu dem katholischen Geistlichen, der ihn nach Annecy an Frau v. Warens empfahl. Diese, eine junge, liebenswürdige, aber äußerst schwache und gutmütige Frau, welche ihren Mann verlassen hatte, war kurz vorher zum Katholizismus übergetreten und bemühte sich, den 16jährigen R. ebenfalls zu bekehren; sie sandte ihn nach Turin in ein Bekehrungshaus, wo er bald darauf den Protestantismus abschwor. Diesen Schritt hatte er hauptsächlich gethan in der Hoffnung auf eine gute Versorgung, wie sie Frau v. Warens und andre Bekehrte vom König von Sardinien erhalten hatten; aber darin sah er sich gründlich getäuscht. Sich selbst überlassen, nahm er sein abenteuerndes Leben wieder auf, wurde Bedienter bei einer vornehmen Dame, von der er jedoch bald wieder entlassen wurde wegen des Verdachts, einen Diebstahl begangen zu haben, trat dann in den Dienst des Grafen von Gouvon, wo man nach Entdeckung seiner hervorragenden Befähigung bemüht war, für seine geistige Weiterbildung zu sorgen, entlief aber auch hier wieder aus Liebe zum Vagabundenleben und kehrte endlich nach langen Irrfahrten 1730 zu Frau v. Warens zurück. Als auch der Versuch, ihn zum Geistlichen heranzubilden, mißlang, versuchte er es mit der Musik, gab Musikstunden, schloß sich einem Industrieritter an, gelangte nach vielen thörichten Streichen und seltsamen Abenteuern bis nach Paris, kehrte dann aber wieder zu Frau v. Warens zurück, die inzwischen nach Chambéry verzogen war. Nach einem vergeblichen Versuch, sich als Schreiber und Musiklehrer sein Brot selbst zu erwerben, zog er zu seiner Freundin, die seine Geliebte geworden war, auf das Landgut Les Charmettes und verlebte dort acht glückliche Jahre, schwelgend im Genuß der schönen Natur, hauptsächlich aber mit ernsten Studien beschäftigt. Hier las er die englischen, deutschen und französischen Philosophen, studierte Mathematik und Latein, vertiefte seine religiösen Anschauungen und versuchte sich in Lustspielen und Opern. Da aber seine Gesundheit durch übermäßige Anstrengungen und die Sorgen um die zerrütteten Vermögensverhältnisse seiner Freundin untergraben war, reiste er auf zwei Monate ins Bad nach Montpellier; als er dann nach seiner Rückkehr bei Frau v. Warens einen andern Liebhaber findet und mit diesem ihre Gunst nicht teilen will, wie sie es ihm vorschlägt, verläßt er ihr Haus, geht als Hauslehrer nach Lyon und 1741 nach Paris, um sein neues System, Noten durch Zahlen auszudrücken, der Akademie zu unterbreiten. Als diese seine Entdeckung zurückwies und überdies eine Krankheit seine Sorgen um die Existenz bedeutend vermehrte, nahm R. die Stelle eines Sekretärs beim französischen Gesandten zu Venedig, dem Grafen Montaigu, an, einem geizigen, brutalen Mann, bei dem er nur 18 Monate aushielt. Obwohl aber auch seine Oper „Les Muses galantes“ fast vollständig durchfiel, so wurde er doch allmählich bekannt; er trat in lebhaften Verkehr mit Diderot, Grimm, d’Alembert, Holbach, Frau v. Epinay u. a., und schon damals rühmte man seine geistvolle Unterhaltung und spottete über sein unbeholfenes Benehmen und seine maßlose Eitelkeit. In dieser Zeit knüpfte er auch sein Verhältnis mit Thérèse Levasseur, einer Arbeiterin ohne jede Schulbildung und so beschränkt, daß sie weder die Monatsnamen erlernen, noch den Wert der einzelnen Geldmünzen behalten konnte. Trotzdem lebten beide glücklich in einer Vereinigung, deren festester Kitt die Macht der Gewohnheit war, und die erst 25 Jahre später durch die Ehe geheiligt wurde; ja, R. nahm sogar die zänkische und habsüchtige Mutter und den kranken Vater der Therese mit in den Kauf. Sie schenkte ihm fünf Kinder, die er alle ins Findelhaus brachte, eine Herzlosigkeit, die er mit vielen Sophistereien zu entschuldigen versuchte. Eine Sekretärstelle, welche er damals bei Madame Dupin und deren Schwiegersohn bekleidete, gab er bald auf für eine Anstellung als Kassierer beim Generalpachter Dupin; inzwischen aber war er mit Einem Schlag ein berühmter Mann geworden. Seine Abhandlung über die Verderblichkeit der Bildung („Discours sur les arts et les sciences“, 1750), eine Antwort auf eine von der Akademie zu Dijon gestellte Preisfrage, war von dieser mit dem Preis ausgezeichnet worden. Von nun an trat er in bewußten Gegensatz zu der Zivilisation, die er für alle menschlichen Laster und besonders für seine eignen Verirrungen verantwortlich machte. Er verschmähte es jetzt auch, von der Schriftstellerei zu leben, und empfahl sich trotz des heftigen Widerspruchs seiner Geliebten und ihrer Mutter als Notenabschreiber in der sichern Erwartung, daß es einem berühmten Mann an Aufträgen nicht fehlen würde. Er täuschte sich auch nicht, denn schon um ihre Neugier zu befriedigen, kamen viele; immerhin aber war es eine höchst unwürdige Rolle, zu der ihn sein ungemessener Stolz und seine Menschenverachtung vermochten. Die Gegenvorstellungen seiner Freunde machten die Sache nur noch schlimmer; er begegnete ihnen mit dem größten Mißtrauen und witterte fortan überall Feindschaft und Verrat. Auch auf dem Theater errang er nun einen glänzenden Erfolg mit der Oper „Le devin du village“ (1752); dagegen fiel sein Lustspiel „Narcisse,

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 13. Bibliographisches Institut, Leipzig 1889, Seite 1012. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b13_s1012.jpg&oldid=- (Version vom 8.4.2023)
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