Zum Inhalt springen

Seite:Meyers b15 s0944.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 15

Frühjahr 1811 wurde von ihm der Turnplatz in der Hasenheide bei Berlin eröffnet, von dem aus durch seine Schüler die Keime einer wirklich jugendfrischen, die Knaben in ihrer Vollkraft packenden Leibeskunst bald auch nach andern Orten Deutschlands, insbesondere an die Hochschulen Halle, Jena und Breslau, verpflanzt wurden. Nachdem das Treiben auf dem Turnplatz natürlich durch die Unruhe der folgenden Kriegsjahre beschränkt worden, auch manche der eifrigsten Jünger der Turnsache, wie besonders Friedr. Friesen (s. d.), im Feld geblieben waren, wurde die Sache mit erneutem Eifer und größerer Vertiefung und Sichtung des Übungsstoffes wieder aufgegriffen. Den letztern durch Einführung von reicher Ausnutzung fähigen Geräten, wie des Recks und des Barrens, erweitert und über das Gebiet der einfachen volksüblichen Übungen noch mehr erhoben zu haben, ist neben seiner Sorge für die sprachliche Bezeichnung (s. unten) Jahns entscheidendes technisches Verdienst um die T. Die Ergebnisse dieser Bemühungen sind von ihm in der 1816 mit seinem Schüler E. Eiselen zusammen herausgegebenen „Deutschen T.“ niedergelegt. Die in dieser Zelt im Gegensatz zu der erwarteten freiheitlichen Gestaltung unsers Staatslebens eintretende Reaktion glaubte natürlich gegen die mit freiheitlichen und nationalen Ideen erfüllten, dazu allerdings hier und da auch ungebundenes und ungeschlachtes, renommistisches Wesen zur Schau tragenden Jahnschen Turnerscharen besonderes Mißtrauen hegen zu müssen. Die Schattenseiten des turnerischen Treibens und das unreife Gebaren von Mitgliedern der mit der Turnerei enge Fühlung unterhaltenden Burschenschaften auf dem Wartburgfest (18. Okt. 1817) veranlaßten zunächst die litterarische Breslauer Turnfehde, die besonders durch Henrich Steffens (s. d.) und K. A. Menzel auf gegnerischer Seite, auf turnerischer geführt ward von Franz Passow, Chr. W. Harnisch (s. d.) und dem Hauptmann W. v. Schmeling, dem Verfasser von „Die Landwehr, gegründet auf die T.“ Nach Kotzebues Ermordung durch den Burschenschafter und Turner Sand (1819) folgte die Schließung sämtlicher (über 80) preußischen, bald auch der meisten andern deutschen Turnplätze und Jahns Verhaftung. Nun wurde zwar auch während dieser Zeit der sogen. Turnsperre an nicht wenigen Orten fortgeturnt, und namentlich hatte Ernst Eiselen (s. d.) Verdienste um die dauernde Pflege und innere Weiterbildung der T., desgleichen Klumpp in Stuttgart, H. F. Maßmann (s. d.) in München; der eigentliche Lebensnerv war aber der Sache durch den Ausschluß der Öffentlichkeit und Jahns erzwungene Fernhaltung unterbunden. Erst der durch Ignaz Lorinsers (s. d.) Schrift „Zum Schutz der Gesundheit in den Schulen“ hervorgerufene Schulstreit über die körperliche Schädigung der Jugend durch den Schulunterricht, ferner die Erweckung des deutschen Nationalgefühls durch die französischen Rheingrenzgelüste im J. 1840 und der gleichzeitige Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. brachten für die Turnsache wieder bessere Zeiten; durch die Kabinettsorder vom 6. Juni 1842 wurden die Leibesübungen als ein „notwendiger und unentbehrlicher Bestandteil der männlichen Erziehung“ anerkannt und 1843 Maßmann behufs Einrichtung des Turnunterrichts im preußischen Staat nach Berlin berufen. Während jedoch letzterer an die Überlieferungen des Jahnschen, eine gemeinsame Beteiligung von jung und alt auf den Turnplätzen voraussetzenden, also Schul- und Vereinsturnen noch nicht scheidenden Turnbetriebs enger anknüpfte, als es sich mit der Aufgabe einer allgemeinen Einführung des Turnens an den Schulen vertrug, war mittlerweile durch Adolf Spieß (s. d.), welcher die Gebiete der Frei- und Ordnungsübungen erschlossen, den turnerischen Übungsstoff systematisch gegliedert und mit Rücksicht auf das Schulturnen beider Geschlechter reich entwickelt hatte, der T. die nötige Ergänzung zu teil geworden, um als Schulunterrichtsfach allgemein zur Einführung gelangen zu können.

[Bildungsanstalten. Unterricht.] Für die weitere Entwickelung des Schulturnens und die methodische Verarbeitung des Übungsstoffes war nicht ohne Bedeutung die Gründung von Turnlehrerbildungsanstalten, wie der zu Dresden (1850) unter dem auch als fruchtbarer Turnschriftsteller wirkenden Moritz Kloss (gest. 1881, seitdem unter Bier) und der preußischen Zentralturnanstalt zu Berlin. Die letztere, die 1851–77 die Abteilungen für die Ausbildung von Militär- und Zivilturnlehrern vereinigte, suchte unter Rothsteins (s. d.) Oberleitung (bis 1863) die auf Lings (s. d.) System beruhende, sogen. schwedische Gymnastik zur Einführung zu bringen, die aber von seiten der deutschen T. entschieden und erfolgreich bekämpft wurde und auch mehr und mehr dem deutschen Turnen Platz machte, in der Zivilabteilung, die 1877 in eine selbständige Turnlehrerbildungsanstalt umgewandelt wurde, unter Karl Eulers (s. d.) Vermittelung. Für Württemberg besteht eine Turnlehrerbildungsanstalt seit 1862 in Stuttgart unter Otto Jäger (s. d.), der ein eignes Turnsystem eingeführt hat, für Baden seit 1869 in Karlsruhe unter Maul (s. d.), für Bayern in München seit 1872 unter Weber. Auch für Turnlehrerinnen bieten die meisten der gedachten Anstalten neuerdings entsprechende Ausbildungsgelegenheit. In einzelnen kleinern deutschen Staaten werden Turnlehrerausbildungskurse von Zeit zu Zeit durch geeignete Kräfte abgehalten. – Auch die Turnlehrerversammlungen, deren seit 1861 an verschiedenen Orten zehn stattgefunden, haben durch Vorträge, Verhandlungen und Vorführungen zur Förderung des Turnunterrichts und Klärung der für ihn geltenden Grundsätze beigetragen.

Der Turnunterricht ist jetzt in Deutschland an den höhern Schulen und den Seminaren so gut wie allgemein, wenn auch an vielen Orten noch in unzulänglicher Form, eingeführt; auch für die Knabenvolksschulen ist er in den meisten Staaten, in Preußen seit 1862, in Baden seit 1868, in Sachsen seit 1873, in Württemberg seit 1883, gesetzlich zur Pflicht gemacht, läßt aber hier noch vieles, an den Landschulen vielerorts noch so gut wie alles zu wünschen übrig. Mit dem Turnunterricht an Mädchenschulen ist man bisher meist nur in Städten vorgegangen. In der Regel beschränkt sich die Einführung des Schulturnens auf zwei wöchentliche Unterrichtsstunden, und selbst diese können wegen Mangels geeigneter Winterturnräume noch nicht überall das ganze Jahr hindurch fortgesetzt werden. Schulneubauten in Städten erhalten jetzt in der Regel eigne Schulturnhallen. Außer dem Schulturnen werden auch an nicht wenigen Orten noch Turnspiele gepflegt, besonders seit dem dahin gehenden Erlaß des preußischen Ministers v. Goßler vom Oktober 1882. Eine Übersicht über die Entwickelung des Turnunterrichts und seinen Stand um das Jahr 1870 gibt die „Statistik des Schulturnens in Deutschland“, hrsg. von J. K. Lion (Leipz. 1873); vgl. Pawel, Kurzer Abriß der Entwickelungsgeschichte des deutschen Schulturnens (Hof 1885). Vgl. auch Euler und Eckler, Verordnungen und amtliche Bekanntmachungen, das Turnwesen in

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 15. Bibliographisches Institut, Leipzig 1889, Seite 944. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b15_s0944.jpg&oldid=- (Version vom 27.3.2023)
OSZAR »