verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 1 | |
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staubförmig in die Mundhöhle und den Magen gelangten. Sehr giftig aber können auch die mit Anilinfarbe bedruckten Tapeten werden, da eine Anzahl gewissenloser Fabrikanten die Anilinfarbenrückstände, welche häufig einen bedeutenden Gehalt von Arsen enthalten, aufkaufen. Übrigens ist zu berücksichtigen, daß im Publikum der Name A. auf alle Teerfarbstoffe ausgedehnt wird, unter denen sich allerdings mehrere befinden, die mit Entschiedenheit als giftig bezeichnet werden müssen.
Das A. wurde 1826 von Unverdorben aus Indigo erhalten und Kristallin genannt; Runge beschrieb es 1837 als Kyanol, welches er aus Steinkohlenteer gewonnen hatte; Fritzsche bereitete es 1840 durch Destillation von Indigo mit Kalihydrat; Zinin gewann 1842 sein Benzidam aus Nitrobenzol, worauf Hofmann 1843 die Identität aller vier Körper nachwies. Die Bildung farbiger Produkte beobachtete zuerst Runge. Beißenhirz entdeckte 1853 die Entstehung eines blauen Farbstoffs beim Behandeln von A. mit chromsaurem Kali und Schwefelsäure, aber Perkins brachte 1856 die erste nach demselben Verfahren bereitete Anilinfarbe (Mauvein) in den Handel. Im J. 1858 entdeckte Hofmann bei der Einwirkung von Chlorkohlenstoff auf A. das Anilinrot. Verguin erhielt unabhängig von Hofmann denselben Farbstoff durch Zinnchlorid und nahm mit Gebrüder Renard, Färbern in Lyon, Patente in England und Frankreich auf die Darstellung von Fuchsin. Sie erwarben auch die von Girard und Delaire gemachte Erfindung der Fuchsinbereitung mittels Arsensäure, und seitdem ist die Fabrikation von Fuchsin in Frankreich durch die Société de la Fuchsine in Lyon monopolisiert. Hofmann erforschte die Natur der neuen Farbstoffe, erklärte die Bildung von Anilinblau aus Fuchsin und A. und entdeckte die mit Alkoholjodüren darstellbaren Farbstoffe. Die Anilinfarbenindustrie hat in kurzer Zeit eine außerordentliche Bedeutung gewonnen. Man konsumierte schon 1869 über 1,5 Mill. kg Anilinöl und davon 1 Mill. allein in Deutschland, den Rest in Frankreich, England und der Schweiz. Im J. 1879 betrug die Tagesproduktion in England 2500 kg (mit nur geringer Ausfuhr), in Frankreich 5–6000 kg (davon über 2/3 Export nach Deutschland), in Deutschland 9000 kg. Obwohl die Begründung der Anilinfarbenindustrie und ihre ersten wichtigsten Erfindungen auf englischem und französischem Boden stattfanden, beteiligte sich doch Deutschland gleich anfangs durch billige und gute Fabrikate an derselben und lief bald allen Mitbewerbern den Rang ab. Seine meist sehr bedeutenden Fabriken liegen hauptsächlich in Südwest- und Westdeutschland und beteiligen sich an der europäischen Gesamtfabrikation mit ungefähr der Hälfte. Bei weitem die größte Menge der Anilinfarben findet in der Färberei Verwendung. In der That sind die Vorzüge dieser Farbstoffe vor andern Pigmenten sehr bedeutend. An Glanz und Schönheit sowie an Leichtigkeit der Färbeprozesse werden sie von kaum irgend einem andern Färbematerial erreicht, während zugleich ihr Preis ein so niedriger ist, daß bei ihrer eminenten Ausgiebigkeit nur wenige andre Stoffe damit konkurrieren können. Am schönsten erscheinen die Anilinfarben auf Seide, durch welche sie ohne weiteres aus kalter Lösung fixiert werden; daher beherrschen gegenwärtig die Anilinfarben die Seidenfärberei vollständig. Wolle färbt sich in erwärmten Lösungen von Anilinfarben ebenso leicht wie Seide, aber ihre Verwendung beschränkt sich hier doch auf Kammwollgewebe für Frauenkleidung und auf Wollgarn. Am wenigsten eignen sich die Anilinfarben für Baumwolle, welche dieselben nur nach vorhergegangener Beizung aufnimmt; immerhin hat der Zeugdruck mit den Anilinfarben einige prachtvolle Effekte erzielt. Leider werden alle diese Farbstoffe durch Licht sehr schnell zerstört, sie gehören in dieser Beziehung zu den vergänglichsten Pigmenten. Durch starke Alkalien oder Säuren werden sie zwar entfärbt, aber beim Waschen erscheint die Farbe wieder; nur durch längere Behandlung mit verdünntem Ammoniak und sorgfältiges Auswaschen kann man sie ziemlich vollständig entfernen. Zur Papierfärberei benutzt man mit Alaun, Tannin, Seifen bereitete Farblacke; nicht unbedeutende Mengen von Anilinfarben werden auch zum Färben von Likören, Essig, Zuckerwaren, Elfenbein, Horn, Leder etc. verbraucht; für die Aquarellmalerei sind besondere Präparate dargestellt worden, aber zur Ölmalerei und zum Färben von Fetten sind die Anilinfarben nicht verwendbar. Auch in der Buchdruckerei werden die Anilinfarben vielfach zum Druck feiner Arbeiten benutzt (s. Buchdruckfarben).
Vgl. Kopp, Examen des matières colorantes artificielles dérivées du goudron de houille (Zabern 1863, 2 Bde.); Reimann, Technologie des Anilins (Berl. 1866); Krieg, Theorie und praktische Anwendung von A. in der Färberei und Druckerei (3. Aufl. von Oppler, das. 1860); „Rapports du jury international“, Teil 7 (Par. 1868); M. Vogel, Entwickelung der Anilinindustrie (2. Aufl., Leipz. 1870); Bolley, Altes und Neues aus Farbenchemie und Färberei (Berl. 1868); Derselbe, Handbuch der chemischen Technologie, Bd. 5 (Braunschw. 1870); Beckers, Anilinfärberei (5. Aufl. von Reimann, Berl. 1874); Girard und de Laire, Traité des dérivés de la houille applicables à la production des matières colorantes (Par. 1873); Wurtz, Progrès de l’industrie des matières colorantes artificielles (das. 1876); Ostermayer, Die organischen Farbstoffe der Steinkohlenteerindustrie (Lörrach 1879); Mierzinsky, Die Teerfarbstoffe, ihre Darstellung und Anwendung (Leipz. 1878); Bersch, Fabrikation der Anilinfarbstoffe (Wien 1878); Schultz, Chemie des Steinkohlenteers (Braunschw. 1882).
Anilinfarben, s. Anilin.
Anilingelb, s. Anilin und Azofarbstoffe.
Anilinorange, s. Kresol.
Anilismus, ein mehr oder minder stark ausgeprägter Komplex von Gesundheitsstörungen, welche durch die Einwirkung von Anilindämpfen auf den Organismus entstehen und sich häufig an Arbeitern in Anilinfabriken zeigen. Versuche an Tieren ergaben bei überall gleicher Empfänglichkeit, daß das Anilin zuerst auf das regulatorische Zentrum für die Herzbewegungen wirkt und zwar zuerst anregend, dann lähmend. Der Tod tritt ein durch Herzlähmung, welche als eine direkte Folge des Gifts zu betrachten ist. Bei den Beobachtungen an Menschen hat man akute und chronische Vergiftungen zu unterscheiden. Erstere treten besonders an heißen Sommertagen bei ungenügender Ventilation ein. Lippen, Ohren und Wangen, wohl auch die Nägel, färben sich bläulich, ohne daß der Arbeiter ein Unwohlsein verspürt, und bei sofortiger Entfernung aus der anilinhaltigen Luft verschwinden diese Symptome in wenigen Stunden. Nach längerer und stärkerer Einwirkung der Anilindämpfe zeigen sich Eingenommenheit des Kopfes, Schwäche, Erschwerung des Atmens, unsicherer Gang, Ekel, Würgen, bisweilen leichte Strangurie.
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 1. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885, Seite 593. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b1_s0593.jpg&oldid=- (Version vom 23.4.2022)