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Seite:Meyers b2 s0497.jpg

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 2

während die untern quadratischen Türme von je zwei Strebepfeilern an den Ecken umgeben und in mehrere Stockwerke, deren Wandflächen von schlanken, mit Maßwerk ausgefüllten Fensteröffnungen durchbrochen werden, geteilt sind und gewöhnlich in einen achteckigen, von Fenstern durchbrochenen Aufsatz, an dessen Ecken wieder freie Türmchen, die sogen. Fialen, emporsteigen, und über demselben in eine schlanke achtseitige, mit weit ausladender Kreuzblume gekrönte, vielfach durchbrochene Pyramide auslaufen. Kleinere Blumen solcher Art, die sogen. Krabben, blühen aus jeder Spitze des Äußern empor; ebenso sind die Kanten der Giebel, der andern pyramidalen Teile und der von dem Mittelschiff über die Seitenschiffe nach den Strebepfeilern geführten Strebebogen mit Blumen besetzt (s. Tafel „Kölner Dom II“, Fig. 5, 8, 9 u. 10). Auch die gotische Architektur wies der bildenden Kunst das weiteste Feld an und trat dadurch mit ihr in ein Verhältnis, welches die vollendetste Gesamtwirkung hervorrief. Die zahlreichern und umfassendern bildlichen Darstellungen gehören, wie es die Bedeutung des kirchlichen Monuments erforderte, dem Innern an, bilden aber nicht mehr, wie in den altchristlichen oder in den spätern Basiliken, eine tote Mauermasse, sondern erscheinen da, wo ihnen die architektonische Form ihre Stelle anweist, wo sie demnach ihre völlige Berechtigung erlangen, während die Glasmalerei der Fenster den monumentalen Farbenschmuck des Innern bildet. Der großartige Raum des Innern nimmt ferner selbständige Monumente von kleinerer Dimension in sich auf, die in architektonischem Charakter wieder einen größern oder geringern Reichtum bildnerischer Darstellungen enthalten, wohin die Altäre, die Tabernakel, in denen das geweihte Brot aufbewahrt wird, die Lettner, von welchen die Evangelien verlesen werden, die Kanzeln und Taufbecken gehören. Im Äußern vereinigt sich naturgemäß die Skulptur mit den architektonischen Formen, und besonders sind es die Portale, welche durch deren figürliche und Pflanzengebilde aufs reichste geschmückt werden. Auch die über denselben befindlichen Giebel sind meist durch Statuen oder Reliefs ausgefüllt, welche auch an denjenigen Stellen des Äußern, wo die freiere Entfaltung der architektonischen Formen Gelegenheit dazu bietet, namentlich an den Strebepfeilern, deren einzelne Türmchen sich zum Teil tabernakelartig gestalten und in solchem Rahmen freie Standbilder aufnehmen, angewandt werden.

Die erste Entwickelung des gotischen Baustils tritt uns in Frankreich und zwar in den nordöstlichsten Gegenden desselben entgegen, was die zahlreichen Monumente in Isle de France, Champagne, Burgund sowie in den Nachbardistrikten der angrenzenden Landesteile bezeugen. Zu den ältern Monumenten gehört die Notre Dame-Kirche von Paris, deren gegenwärtiger Bau (angeblich) bereits 1163 begonnen, erst um 1360 vollendet wurde. Verwandten Stil zeigen: das Chor der Kathedrale von Rouen (1212–1280), die Kathedrale von Laon, die Kirche Notre Dame zu Dijon (1252–1334), die Kathedralen von Senlis, Auxerre (seit 1213), Sens etc. Während die 1260 geweihte Kathedrale von Chartres noch strenge Formen besitzt, zeigt die 1211 begonnene, 1250 vollendete Kathedrale von Reims, eine der glänzendsten Schöpfungen der gotischen B. (s. Tafel X, Fig. 5), die konsequenteste Durchbildung des frühgotischen Stils. Bei der Kathedrale von Amiens (1220–88) nähert sich der architektonische Charakter bereits der besonders in Deutschland auftretenden freiern Entwickelung des Stils; dagegen zeigen sich an einigen frühgotischen Bauten der Normandie mehr oder minder abweichende Motive, so an dem Chor von St.-Etienne zu Caen, an der Kathedrale von Bayeux (mit Ausnahme der etwas ältern, spätromanischen Arkaden des Schiffs, deren Fortsetzung der übrige Bau ausmacht) und, wie es scheint, an der Kathedrale von Coutances, während sich der gotische Baustil in der Normandie später zu einer glänzenden Pracht entwickelte, der es im ganzen freilich mehr auf ein ebenso leichtes und zierliches wie kühnes und phantastisches Spiel der Formen ankommt. Das Palais de Justice und das Hôtel de Bourgtheroulde in Rouen und das Schloß Fontaine le Henri bei Caen sind charakteristische Beispiele der spätgotischen Palastarchitektur. Andre Beispiele derselben erscheinen in Lothringen und Burgund, ja man bezeichnet zuweilen, an den Glanz des burgundischen Hofs erinnernd, diesen Stil mit dem Namen des burgundischen. Dasselbe ursprüngliche System der gotischen Architektur, welches in den nordöstlichen Gegenden von Frankreich auftritt, herrscht auch in den Niederlanden, sowohl bei den minder zahlreichen Kirchen, welche der frühern Entwickelungsperiode des Stils angehören, als bei den weit zahlreichern Kirchen der spätern Zeit, vor. Indem aber dies System hier mit der größten Einseitigkeit aufgefaßt und meist ohne alle weitere künstlerische Ausbildung zur Anwendung gebracht wird, erhält auch das Äußere oft einen schweren, nüchternen Charakter, und wo ein größerer Formenreichtum angewandt wird, erscheint derselbe vorherrschend in dem Gepräge einer äußerlichen, mehr oder weniger willkürlichen Dekoration. Hierher gehören die meisten Kirchen gotischen Stils zu Valenciennes, Tournai, Lille, Courtrai, Ypern, Brügge, Gent, Brüssel, Löwen, Mecheln, Antwerpen, Lüttich, Huy, Dinant etc., während die holländischen Kirchen zu Rotterdam, Delft, im Haag, zu Leiden, Haarlem, Amsterdam etc. Beispiele der nüchternsten Architektur darbieten, von welchen nur die der spätern Periode dieses Stils angehörigen Kirchen, so die im 14. Jahrh. erbaute, durch die Schönheit der Verhältnisse des Innern ausgezeichnete Kathedrale zu Antwerpen, die Kirchen St. Peter zu Löwen, St. Martin zu Halle (unfern Brüssel), St. Waltrudis zu Mons, St. Salvator zu Brügge eine Ausnahme machen. Der im Innern mit Rundsäulen geschmückte Dom St. Gudula zu Brüssel ist durch seine schöne Fassade aus dem Anfang des 16. Jahrh. ausgezeichnet, die sich in ihren Hauptmotiven der deutsch-gotischen Bauweise nähert. Die niederländischen Kirchen tragen das Gepräge von öffentlichen Hallen, neben welchen die Stadthäuser, Fruchthallen und andre öffentliche Bauten der Art als wichtige und umfassende Anlagen erscheinen, an denen sich in den letzten Zeiten des gotischen Stils sogar eine höhere künstlerische Ausbildung entfaltet, und deren architektonische und bildnerische Dekoration in eigentümlich reicher und geschmackvoller Weise durchgeführt erscheint. Das glänzendste und prachtvollste Beispiel solcher Bauanlagen ist das Stadthaus von Löwen (1448–69), welchem sich die namhaften Stadthäuser zu Brüssel, Gent (der ältere Teil desselben, gegründet 1481), Brügge (bereits 1376 gegründet), Oudenaarde, Arras, Mons und die Tuchhalle in Ypern (s. Tafel X, Fig. 3) anreihen, denen der sich kühn über das Gebäude erhebende städtische Glockenturm, Belfroy (Beffroi) genannt, zur besondern Zierde gereicht.

In England ward der gotische Baustil fast ebenso früh wie in Frankreich und, wie es scheint, nicht ganz ohne einen von dort ausgegangenen Einfluß eingeführt; doch nahm derselbe hier alsbald eine eigentümliche,

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 2. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885, Seite 497. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b2_s0497.jpg&oldid=- (Version vom 16.5.2022)
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