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Seite:Meyers b4 s0564.jpg

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 4

zog, ließ er wenige Jahre später das wiederum zweibändige Werk über die „Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“ („The descent of man and on selection in relation to sex“, 1871) folgen, welches einen neuen Sturm gegen den Verfasser und seine Theorien heraufbeschwor, weil in demselben der bisher außer Betracht gelassene Mensch in seinen verwandtschaftlichen Beziehungen zur übrigen Tierwelt behandelt wurde. Dieselbe Richtung setzte das im folgenden Jahr veröffentlichte Werk über den „Ausdruck der Gemütsbewegungen bei Menschen und Tieren“ („Expression of the emotions in men and animals“, 1872) fort, indem auch auf diesem mehr geistigen Gebiet die auffallendsten Beziehungen nachgewiesen wurden. Ein neues Forschungsgebiet eröffnete D. in seinen „Insektenfressenden Pflanzen“ („Insectivorous plants“, 1875), wobei in dem Nachweis der sonderbaren Ernährungsweise dieser Pflanzen von tierischen Stoffen wieder seine Befähigung als Experimentator glänzend hervortritt. Dasselbe gilt von seinem demnächst erschienenen Werk über die „Kreuz- und Selbstbefruchtung der Pflanzen“ („Cross- and self-fertilisation of plants“, 1876), in dem auf Grund höchst ausgedehnter Versuchsreihen der Nachweis erbracht wurde, daß für die meisten Pflanzen Kreuzung vorteilhafter als Selbstbefruchtung sei, ein Nachweis, der die zahlreichen Arbeiten Darwins über den Einfluß der Insekten auf die Kreuzung der Pflanzen zum Abschluß brachte und den betreffenden Abschnitt seines Wirkens krönte. Ein neues, noch in Diskussion befindliches Gebiet eröffnete sein nächstes Werk über das „Bewegungsvermögen der Pflanzen“ („The power of movement in plants“, 1880), und in seinem letzten Werk über die „Bildung der Ackererde durch die Thätigkeit der Würmer“ („The formation of vegetable mould by the action of erdworms“, 1881) kehrte er zu einem früh ins Auge gefaßten Lieblingsgegenstand zurück, dem er ein halbes Jahrhundert hindurch seine Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Immer noch mit neuen Problemen beschäftigt, starb er 19. April 1882 und wurde in der Westminsterabtei bestattet.

Darwins Einfluß auf die Naturforschung ist ein so großer gewesen, daß man ihn mit Vorliebe und gutem Rechte den „Kopernikus oder Newton der organischen Welt“ genannt hat. Binnen wenigen Jahrzehnten ist ein Umschwung in den Ansichten, Methoden und Zielen der Naturforscher, vor allen der Zoologen und Botaniker, eingetreten, wie er in der Geschichte der organischen Forschung seinesgleichen nicht hat. Indem D. ferner den Menschen als Glied der lebenden Natur reklamierte, hat er zugleich die Menschenwissenschaften in eine lebendige Berührung und Wechselwirkung mit der Naturwissenschaft gebracht, und die genetische Methode, die Verfolgung des Werdenden und der Entwickelung, um das Gewordene besser zu verstehen, ist das Schibboleth der heterogensten Forschungsgebiete geworden. Er hatte die Freude, den vollständigsten Triumph seiner Lehren zu beobachten, und namentlich in Deutschland fand er das frühste Verständnis und begeisterte Anhängerschaft. Der heftige, anfangs von persönlichen Angriffen nicht freie Kampf seiner Gegner war längst verstummt; auch die rücksichtslosesten unter ihnen wurden durch die milde und versöhnliche Form, in welcher er seine Ansichten verteidigte, entwaffnet. Noch mehr aber gewann er die Geister durch seinen das Fernste verknüpfenden Scharfsinn und seine nie ruhende Vorsicht im Prüfen der eignen Schlüsse, sowie die Herzen durch seine Milde und Gerechtigkeit im Urteil, durch seine Hingebung für die Freunde und durch seine Aufrichtigkeit und Bescheidenheit den eignen Leistungen gegenüber. Eine deutsche Übersetzung von Darwins „Gesammelten Werken“, mit Ausnahme der Monographie über die Cirripeden, besorgte V. Carus (Stuttg. 1875–82, 13 Bde.). Eine Sammlung und Übersetzung von Darwins „Kleinern Schriften“ gab E. Krause (Leipz. 1886) heraus. Vgl. E. Krause, Ch. D. und sein Verhältnis zu Deutschland (Leipz. 1885). Eine ausführlichere Biographie bereitet einer seiner Söhne, Francis D., vor.

Darwinismus (Darwinsche Theorie), dasjenige naturphilosophische System, welches Charles Darwin zur Erklärung des Naturlebens in seinem Zusammenhang aufgestellt hat, und welches gegenwärtig von der überwiegenden Mehrzahl der jüngern Naturforscher als die beste bisher gegebene Erklärung der Rätsel des Lebens betrachtet wird. Die Darwinsche Theorie gipfelt in Beweisen für die sogen. Abstammungs- oder Deszendenztheorie (s. d.), die durch sie erst zu dem Rang einer annehmbaren Theorie erhoben wurde. Seit dem Erscheinen des grundlegenden Werkes über die „Entstehung der Arten“ (1859) hat dieses System durch seinen Urheber selbst wie durch andre und namentlich durch deutsche Forscher bedeutend an Zuwachs und Festigkeit des Gefüges gewonnen, wovon wir nachstehend nur kurz die Umrisse andeuten können.

Die Grundlagen des D. bilden die drei Erfahrungsthatsachen der Veränderlichkeit, der Vererbungsfähigkeit und der Überproduktion der Lebewesen. Gegenüber dem Linné-Cuvierschen Dogma von der Konstanz der Arten zeigte Darwin zunächst durch sein auf der Reise um die Welt und durch langjährige Beobachtung auf dem Gebiet der Züchtung gewonnenes und außerordentlich reichhaltiges Material, daß die Veränderlichkeit oder das Variationsvermögen der Pflanzen und Tiere viel weiter gehe und eine viel weiter tragende Thatsache sei, als man bisher geglaubt. Die tägliche Erfahrung ergibt, daß die zu einer sogen. Art gerechneten Individuen einander ebensowenig jemals absolut gleichen wie die Glieder einer menschlichen Familie, daß sie vielmehr in größerm oder geringerm Grad einander unähnlich sind, also von dem vermeintlichen Urbild der Art abweichen. Schon die Beobachtung wild lebender Pflanzen und Tiere bestätigt dies, und man hat in allen systematischen Übersichten stets Nebenformen aufführen müssen, welche als klimatische, lokale etc. Varietäten entweder in einen gewissen Bezug zu den umgebenden Bedingungen gesetzt, oder einfach als Vorkommnisse, für die man eine Erklärung nicht weiter suchen zu müssen glaubte, hingenommen wurden. Die Erfahrungen der Tier- und Pflanzenzüchter erweitern diese Beobachtungen namentlich durch den Nachweis, daß kein einziges Organsystem des lebenden Körpers von diesem Variationsvermögen frei ist. Die ungeheure Mannigfaltigkeit unsrer Kulturpflanzen und Haustiere (man denke z. B. an die Spielarten der Gartenblumen und Obstsorten oder an die von Darwin zum besondern Gegenstand seiner Studien gemachten Taubenrassen) bietet selbst bei Anerkennung der Mitwirkung von Hybridationen das ausgiebigste Beweismaterial gegen das Dogma von der Unveränderlichkeit der Art. Die Varietäten aber sind nach Darwins Auffassung nichts andres als beginnende Arten, und es kommt nur darauf an, daß sie sich weit genug von der Stammform entfernen, um als selbständige, neue Arten zu gelten. Die Ursache der meisten Absonderungen

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 4. Bibliographisches Institut, Leipzig 1886, Seite 564. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b4_s0564.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2023)
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