verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 4 | |
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Deutsche Litteratur, im weitesten Sinn der Inbegriff der gesamten Schriftwerke des deutschen Volkes, insofern dieselben Geistesprodukte von bleibender und nachwirkender Bedeutung und dadurch Gegenstand fortgesetzten Anteils sind oder doch einen bestimmten geschichtlichen Wert für gewisse Perioden und Kulturentwickelungen gehabt haben. In der Regel unterscheidet man die deutsche Nationallitteratur von der wissenschaftlichen (gelehrten) Litteratur der verschiedensten Gebiete.
Der Begriff der Nationallitteratur, die uns hier zunächst und hauptsächlich beschäftigt, kann mit einer gewissen Willkür bald verengert, bald erweitert werden; immer aber bleibt es unzweifelhaft, daß die poetischen Schöpfungen im Mittelpunkt der Nationallitteratur stehen und den wichtigsten Teil derselben bilden. „Unter den Denkmälern der Litteratur sind die poetischen insofern die wichtigern, als sie, ihren Zweck in sich selbst tragend, auf eine freiere, deutsches Gemüt und deutschen Geist entschiedener aussprechende Weise entstanden sind als die meisten Werke der Beredsamkeit, das Wort im weitern Sinn verstanden, da bei deren Abfassung in der Regel praktische oder wissenschaftliche Zwecke vorzugsweise gewaltet haben“ (Koberstein). Die außerhalb der Dichtung stehenden Werke der Nationallitteratur können im wesentlichen nur solche sein, welche sich durch eine durchgebildete, schöne Form auszeichnen und in gewissem Sinn eine ästhetische Wirkung hervorzubringen vermögen. Die Aufgabe der Geschichte der deutschen Litteratur bleibt es daher, der Entwickelung des deutschen Volksgeistes und der deutschen Sprache, wie sie sich in den Tausenden von Schriftwerken der bezeichneten Art darstellt, treu und sorgsam nachzugehen, die Wechselwirkung zwischen dem nationalen Leben und unsrer Litteratur klar zu machen, den Reichtum von Besonderheiten, die doch wieder einem allgemeinen Gesetz untergeordnet erscheinen, zu erfassen, die Entwickelungsbeziehungen zwischen den einzelnen Zeiträumen und Schöpfungen der Litteratur darzulegen, und durch historisch-ästhetische Betrachtung zum Genuß litterarischer Schöpfungen anzuleiten. Die Werke der deutschen Litteratur stellen eins der kostbarsten Besitztümer des deutschen Volkes dar; sie sind in verhängnisvollen Zeiten das einzige nationale Besitztum gewesen, und jeder Rückblick auf das Werden und Wachsen, Blühen und Welken, Streben und Irren in den Werken der Dichtung erschließt ein mächtiges Stück deutscher Geschichte und deutscher Eigenart. Von den ältesten Tagen bis auf die Gegenwart gehen in Vorzügen und Mängeln bestimmte erkennbare Grundzüge durch die Entwickelung der deutschen Litteratur; allem Wandel und Wechsel der Zeiten, der Sitten und Zustände, selbst der Sprache trotzend, treten, meist unbewußt und unbeabsichtigt, die geheimsten Regungen der Volksseele, die besondern Eigentümlichkeiten des deutschen Wesens in den Schriftdenkmälern zu Tage. Liegt auch die Periode der ausschließlichen Pflege der Litteratur und eines durchaus litterarischen Charakters der deutschen Kultur schon längst hinter uns, so wird doch keine Zeit aufhören können, an den Leistungen und Ehren der Nationallitteratur warmen, ja leidenschaftlichen Anteil zu nehmen.
Die Geschichte der deutschen Litteratur zerfällt naturgemäß in zwei große Hauptabschnitte, deren erster von den Anfängen und ältesten Zeugnissen der Litteratur bis zum Ausgang des Mittelalters, der zweite von da bis zur Gegenwart reicht. Die Untereinteilungen ergeben sich durch die Hauptperiode in der nationalen Geschichte, des deutschen Kulturlebens, aus denen die Litteratur gedeihend und blühend oder in kümmerlicher Entfaltung erwachsen ist, mit denen sie in so engem Zusammenhang, so unablässiger Wechselwirkung gestanden hat, daß neuerlich eine Auffassung herrschend werden konnte, welche die Bedeutung der besondern Elemente und der individuellen Begabungen so gut wie verneinte. Zeigt es sich indessen, daß, je näher jede geschichtliche Darstellung der neuern Zeit rückt, je reicher die Quellen fließen, aus denen wir unsre Kenntnis über die einzelnen Träger der poetischen Litteratur schöpfen, die Mitwirkung jener Eigenart, der zufolge jeder Mensch gleichsam eine Welt für sich darstellt, immer bedeutsamer wird: so ist ein Anteil hoch stehender Einzelnen an der Entwickelung der Dichtung auch für jene Zustände und Gebiete anzunehmen, in denen für uns längst das Besondere im Allgemeinen untergetaucht erscheint.
Den Perioden der deutschen Litteratur, die sich historisch fixieren lassen, an deren Ein- und Ausgang bestimmte Werke und Namen stehen, und von denen spärliche oder reiche schriftliche Denkmäler und Zeugnisse vorhanden sind, ist eine Entwickelung, ja, wie man neuerdings geneigt ist anzunehmen, eine hohe Blüte deutscher Dichtung vorangegangen, deren Nachklänge weit in die Zeiten des Mittelalters hereinreichen. Unerkennbar bleibt, wann und wo die poetische Gestaltung der Götter- und Heldensage angehoben hat, deren Anfänge vielleicht schon jene Arier auf ihrem Zug von Asien nach Europa begleiteten, welche sich vom gemeinsamen indogermanischen Stamm ablösten und nach mancher dazwischenliegenden Entwickelung als Germanen mehrere Jahrhunderte vor Christo Norddeutschland bis zu den Mündungen des Rheins und die Küsten der Nord- und Ostsee bevölkerten, die Kelten süd- und westwärts vor sich herdrängend. Große Stämme dieser Germanen, vor allen das Volk der Goten, saßen noch weit im Osten zur Zeit, als Rom vor den Teutonen zitterte, welche schließlich die Feldherrnkunst des Marius überwand, als Cäsar mit Ariovist kämpfte, als das Heer des Varus vor den germanischen Stämmen im Teutoburger Wald erlag, und als in den Tagen Kaiser Trajans Tacitus in seiner „Germania“ die erste genauere Kunde über die germanischen Völker gab und die rauhen, jugendfrischen, kriegerischen und häuslichen Tugenden derselben im Gegensatz zu der übersteigerten und alt werdenden Kultur der römischen Welt schilderte. Bei allen oder doch bei einer Mehrzahl der germanischen Stämme fanden sich nach dem Zeugnis der Römer Lieder, die schon Tacitus als „alte“ bezeichnet. Der eine jener beiden „Merseburger Zaubersprüche“, die im 9. Jahrh. aufgeschrieben wurden, klingt an eine altindische Spruchformel an und deutet um Jahrhunderte zurück. Auch die ältesten Fassungen der Siegfriedsage, die Anfänge jener Tiersage, in deren Mittelpunkt der Fuchs steht, mögen weiter zurückreichen als die historische Kunde von unsern Urvätern. Aus der Vergleichung der Reste altheidnischer Gedichte mit den Dichtungen der Skandinavier und Angelsachsen, mit den uralten Rechtsformeln hat man mit einiger Sicherheit geschlossen, daß allen ältesten Gesängen durch Allitteration Form und Gestalt gegeben worden sei, eine Form, die besonders geeignet erscheint, ebendiese Lieder dem Gedächtnis einzuprägen und so von Mund zu Mund zu überliefern. Beweise im strengsten Wortsinn sind hier nicht möglich;
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 4. Bibliographisches Institut, Leipzig 1886, Seite 733. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b4_s0733.jpg&oldid=- (Version vom 6.3.2023)