verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 4 | |
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Jahrhundert gewaltiger Erschütterungen und Kämpfe, eines großartigen geistigen Ringens, an dem fast jeder einzelne nach Maßgabe seiner Kraft Anteil zu nehmen hatte, zeitigte starke und eigenartige Charaktere. Die deutsche Dichtung und Litteratur des 16. Jahrh., zunächst von den Doppelwirkungen des Humanismus und der Reformation durchdrungen, trat im Verlauf der letztern immer ausschließlicher in Abhängigkeit von der kirchlichen Bewegung. Die religiösen Kämpfe und das neue Glaubensbewußtsein durchdrangen alles Dasein, also auch alles litterarische Streben. Eine Fülle von Kraft und Leben, von geistiger Gewalt und fortreißender Überzeugung war der Litteratur besser verbürgt als die künstlerische Durchbildung und Läuterung. War sonach, wie Uhland hervorhebt („Geschichte der deutschen Dichtkunst im 15. und 16. Jahrhundert“), „die Dichtkunst dieses Zeitraums nur ein Werkzeug andrer Zwecke, so war doch dieses Werkzeug ein kräftig bewegtes, eine klingende, Funken schlagende Waffe. Sie ist oft mehr eine Fechtkunst als eine Redekunst, oder sie ist die Rede eines Predigers im Lager, der Gesang eines Landsknechts. Ohne Zartheit und Anmut, ist sie oft derb bis zur Roheit, ungeschliffen, wenn sie nicht Schärfe hätte; wo sie kunstreich sein will, wird sie steif und trocken; will sie sich zierlich gebärden, so wird sie ungelenk; hat sie Frieden, so wird sie langweilig. Aber auf dem Kampfplatz oder auf der Bühne frischer Volkslust offenbart sie ihre eigentümlichen Tugenden: Kraft im Ernst und im Scherz, tüchtigen Witz, gesunden Welt- und Hausverstand. Man muß sich zu den Streitgedichten immer den Mann und seine Kampfstellung hinzudenken, dann wird das starre Rüstzeug sich klirrend bewegen.“
Alle bezeichneten Eigenschaften der Reformationslitteratur sind in jenen Werken vom Ausgang des 15. Jahrh. bereits vorhanden, welche aus den Kreisen der Humanisten hervorwuchsen, und deren Verfasser nachmals nur teilweise sich der Reformation anschlossen. Hier begegnen uns Seb. Brant (1458–1521) mit seinem weitgepriesenen, wirkungsreichen und viel nachgeahmten „Narrenschiff“; Thom. Murner (1475–1536) mit den satirisch-didaktischen Dichtungen: „Schelmenzunft“, „Narrenbeschwörung“ und „Gäuchmatt“; ferner die schweizerischen Dichter Pamphilus Gengenbach von Basel, Niklaus Manuel von Bern als Verfasser von frisch schildernden Gedichten und reformatorisch gestimmten Fastnachtsspielen; Johannes Pauli (Pfeddersheimer) mit den Erzählungen „Schimpf und Ernst“. Hierher gehören aber auch die deutschen Schriften des interessantesten ritterlichen Vorkämpfers der humanistischen Bewegung, des stürmischen Ulrich v. Hutten (1488–1523), die in ihrer spröden Rauheit noch auf die Periode zurückweisen, in welcher sich eine neuhochdeutsche Schriftsprache erst herauszuringen begann. Die niederdeutsche Litteratur empfing im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrh. im ideellen Zusammenhang mit der ganzen geistigen Bewegung der Zeit eine wertvolle Bereicherung durch die erneute Bearbeitung des „Reineke Fuchs“ von 1498.
Im Mittelpunkt der gesamten deutschen Litteratur wie des gesamten deutschen Lebens des 16. Jahrh. stand die alles überragende Gestalt Martin Luthers (1483–1546). Der große Kirchenreformator ward auch der größte deutsche Schriftsteller der Zeit; mit seiner deutschen Übertragung der Bibel förderte, ja schuf er im eigentlichen Sinn des Wortes die neuhochdeutsche Schriftsprache, welche geistigen Schwung, Wortfülle, melodische Kraft, Biegsamkeit für die höchsten Aufgaben der Poesie und Redekunst erst erhielt und der Litteratur der Zeit einen epischen Hintergrund gab, „auf den nur zurückgedeutet werden durfte, um ganze Reihen von Vorstellungen und Empfindungen wie durch Zauberschlag zu erwecken“ (Gödeke). Die große Zahl der übrigen Schriften Luthers ward für die gesamte Kampflitteratur des 16. Jahrh. geistiger Quell und ein Wortschatz zugleich, dessen Reichtum Tausende nutzten. Als Dichter brach Luther dem evangelischen Kirchengesang mit seinen Liedern die Bahn, in denen die Kraft, die Glut, selbst der Trotz seines Wesens vom freudigsten Glaubensgefühl und herzinniger Liebe durchdrungen erscheinen. Eine ganze Reihe evangelischer Liederdichter schloß sich an Luther an, unter ihnen Justus Jonas, Paul Eber, Veit Dietrich, Johannes Matthesius, Johann Walter, die Nürnberger Lazarus Spengler und Sebaldus Heyd, die Straßburger Wolfgang Dachstein, Heinrich Vogtherr, Wolfgang Capito, Paulus Speratus, der Deutschböhme Nikolaus Hermann und die Niederdeutschen Nikolaus Decius, Johannes Freder, Andreas Knöpken, unzähliger andrer zu geschweigen. Schon der zweiten Hälfte des Jahrhunderts gehören dann die kirchlichen Sänger Cyriacus Spangenberg, Ludwig Helmbold, Kaspar Melissander, Philipp Nicolai u. a. an. Unter den poetischen Polemikern der Reformation ragt Erasmus Alberus mit Liedern und dem „Buch von der Weisheit und Tugend“ (polemischen Fabeln) hervor. Die litterarischen Verteidiger der alten Kirche, wie Hieronymus Emser, Johann Cochläus, Georg Wicel, blieben beinahe wirkungslos. Auch die weltliche Dichtung bis herab auf die Unterhaltungslitteratur im gewöhnlichsten Sinn ward vom Geiste der Reformation ergriffen. Der größte und populärste weltliche deutsche Dichter des 16. Jahrh., der Nürnberger Schuhmacher Hans Sachs (1494–1576), war einer der begeistertsten Anhänger Luthers. Hervorragender Meistersänger, vor allem aber Meister der volkstümlichen poetischen Erzählung, des Schwanks und des Fastnachtsspiels, Vorläufer oder Begründer des weltlichen deutschen Dramas in größerm Stil, zeichnete er sich als phantasievoller, frohsinniger, heiter-verständiger, witziger Vertreter des protestantisch gesinnten deutschen Bürgertums aus; die Fruchtbarkeit seiner durch umfassende Lektüre genährten Erfindungskraft ward durch eine glückliche sprachschöpferische Leichtigkeit des Ausdrucks unterstützt. Die kaum übersehbare Masse seiner lyrischen, allegorischen und didaktischen Gedichte, gereimten Erzählungen, Fabeln, Schwänke, seiner Tragödien und Komödien, seiner Fastnachtsspiele ward vorbildlich beinahe für die ganze erzählende und dramatische Dichtung der Zeit. Sachs schlossen sich auf dem Gebiet des Dramas an: Paulus Rebhuhn (mit einer „Susanna“ und „Hochzeit zu Kana“), Joachim Greff („Judith“), Peter Probst, Sebastian Wild (mit Schauspielen biblischen und romantischen Stoffes), Jakob Ruof von Zürich (biblische und patriotische Schauspiele: „Wilhelm Tell“, „Wohl- und Übelstand einer löblichen Eidgenossenschaft“), Leonhard Culmann; als Dichter von geistlichen Spielen, Fastnachtskomödien, als poetischer und prosaischer Erzähler, als einer der Mitbegründer des Romans wie als Übersetzer Jörg Wickram von Kolmar (zwischen 1520 und 1557 thätig). Als poetische Erzähler zeichneten sich aus Burkard Waldis („Esopus“), M. Montanus, H. W. Kirchhof („Wend-Unmut“). Von den sonstigen für die Litteraturentwickelung der Folge wichtigen Prosaikern der Zeit, deren doch keiner an Luther heranreichte, ist der bedeutendste, durch seine
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 4. Bibliographisches Institut, Leipzig 1886, Seite 740. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b4_s0740.jpg&oldid=- (Version vom 6.3.2023)