verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 4 | |
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Nüchternheit und Enge, die Brutalität und der Pedantismus aller nach dem Westfälischen Frieden herrschenden Lebensanschauungen und Lebensformen, die Verödung und herzlose Veräußerlichung der streitenden Kirchen, welche zu Münster und Osnabrück notgedrungen Frieden geschlossen hatten: alle diese hoffnungslosen Zustände und Erscheinungen drückten schwer auf das geistige, zumal das litterarische Leben Deutschlands. Allerdings begann gegen den Ausgang ebendieser Epoche neben der kunststörenden, herabdrückenden Einwirkung falscher Gelehrsamkeit auf die Litteratur auch der günstige, befreiende Einfluß wirklichen Denkens, innerlicher Aufklärung im besten Wortsinn. Obschon der große Philosoph Leibniz (1646–1716), der „genialste Polyhistor der Zeit“, wesentlich nur französisch und lateinisch schrieb, so übten die durchdringende Kraft seines Geistes, der Idealismus seiner Grundanschauungen einen tiefgehenden und heilsamen Einfluß auf das herabgekommene, innerlich verödete Geschlecht nach dem Krieg. Eine befreiende Wirkung ging auch von Leibniz’ Schüler und Nachfolger Christian Wolf (1679–1754) aus, dessen in deutscher Sprache vorgetragene Metaphysik bei ihrer encyklopädischen und formalistischen Natur für die Schulung der Geister Vorzügliches leistete. Chr. Thomasius (1655–1782) wirkte auf den verschiedensten Gebieten „vermischter philosophischer und juristischer Händel“ und erwarb sich um Geltung der Philosophie und vernünftiger Sittenlehre, um geistige Freiheit und weltfrohe Gewandtheit einer deutsch redenden Wissenschaft nicht hoch genug zu schätzende Verdienste. In entgegengesetzter Richtung, aber mit gleicher Wirkung gegen die Herrschaft einer kirchlichen Orthodoxie, die in starrsinniger Beschränkung und trostloser Äußerlichkeit das ganze lebenspendende Erbe der Kirchenreformation verloren hatte, half die pietistische Bewegung mit ihrer Verinnerlichung und ihrem wahrhaft religiösen Leben die Gemüter befreien und der Litteratur einen neuen Boden bereiten. In kleinen Kreisen wirkten die mystische Theosophie des dunkeln und tiefsinnigen Jakob Böhme, des Schuhmachers von Görlitz (1575–1624), in weitern die Lehren und Schriften der eigentlichen Begründer und Förderer des Pietismus, Philipp Jakob Spener (1635–1705) und Aug. Herm. Francke (1663–1727), nach. Langsam aber erwuchsen aus den so ausgestreuten Samenkörnern Keime, und bis sie aufgingen, herrschte die leben- und inhaltloseste gelehrte Poesie, der oft kaum der Name einer poetischen Rhetorik zuzusprechen ist. Daß das subjektive Talent in all dieser Öde und wüsten Geschmacklosigkeit nicht erlosch und sich unter günstigen Umständen über das Niveau der Zeit erhob, ändert an der Thatsache nichts, daß die deutsche Litteratur in das Zeitalter ihres tiefsten Verfalls getreten war.
Der gelehrt-akademische Charakter der litterarischen Weiterentwickelung Deutschlands sprach sich am Eingang des 17. Jahrh. in den gepriesenen Sprachgesellschaften aus, die mit der 1617 auf Schloß Hornstein begründeten „Fruchtbringenden Gesellschaft“ (Palmenorden) begannen. Die bis 1680 fortgesetzte, unter fürstlich anhaltischer und herzoglich weimarischer Protektion stehende Gesellschaft ward der florentinischen Crusca nachgebildet; sie erstreckte ihre Thätigkeit nur auf Reinhaltung der Sprache und erreichte selbst diese keineswegs bei allen ihren fürstlichen, vornehmen und gelehrten Mitgliedern. Noch unwichtiger waren die „Aufrichtige Tannengesellschaft“ (1633 in Straßburg gestiftet), die von Philipp Zesen ins Leben gerufene „Deutschgesinnte Genossenschaft“ in Hamburg (1643), welcher der „Elbschwanenorden“ (um 1660 von Johann Rist gegründet) folgte. Längeres Leben und eine gewisse Selbständigkeit zeigte der nürnbergische „Blumenorden“ oder die „Gesellschaft der Schäfer an der Pegnitz“ (durch Harsdörffer und Klaj 1642 gestiftet), in welcher eine besondere Richtung der Nachahmung italienischer Litteratur gedieh. Im ganzen waren die sämtlichen Orden und Gesellschaften durchaus ungeeignet, die Abhängigkeit der deutschen Dichtung ihres Jahrhunderts von fremden Mustern zu beseitigen oder auch nur einzuschränken.
Als „Vater“ einer neuen deutschen Dichtung von seiner Zeit gepriesen, in Wahrheit nur der Vater der unerquicklichen gelehrten Kunst und der Begründer der „schlesischen Dichterschule“, trat während des Dreißigjährigen Kriegs Martin Opitz (1597–1639) mit frostigen, aber im Sinn seiner im Büchlein „Von der deutschen Poeterey“ (1624) verkündeten Theorie mit korrekten und mustergültigen Gedichten auf, die sich auf Nachbildung antiker und Ronsardscher Dichtungen gründeten. Das Formprinzip, welches Opitz aufstellte, fand allgemeine Nachachtung, und selbst Dichter, die ihn an dichtender Kraft und Darstellungskunst weit überragten, bekannten sich als dankbare Schüler des „Boberschwans“. Unter den Genossen der ersten schlesischen Dichterschule wurden Andr. Tscherning, Dan. v. Czepko, A. Büchner, Dietrich von dem Werder bei ihren Zeitgenossen gepriesen. Über die gemachte Dichtung zur wirklichen, lebenerfüllten erhoben sich der Lyriker Paul Fleming (1609–40), der Dramatiker Andreas Gryphius (1616–64), dessen Tragödien große Züge wirklicher Menschendarstellung enthalten, und dessen Lustspiele: „Horribilicribrifax“ und „Peter Squenz“ samt den Bauernszenen im Singspiel „Die geliebte Dornrose“ bestätigen, daß er mehr von der aus seinen Lebensschicksalen erwachsenen Verdüsterung als von der Opitzschen Theorie in seiner vollen Entfaltung gehemmt ward; endlich der Epigrammatist Fr. v. Logau (1604 bis 1655). Einzelne echte lyrische Töne schlugen auch mitten im Ungeschmack die Männer des Königsberger Dichterkreises: Simon Dach, Heinrich Albert, Robert Roberthin, an. Dafür wurde die künstliche, verbildete und innerlich leere Litteratur durch die Thätigkeit der Nürnberger Pegnitzschäfer: Ph. Harsdörffer, Joh. Klaj, Siegmund v. Birken, durch die Romane und Dichtungen Phil. v. Zesens, durch Joh. Rist, Schottelius nur gefördert. Die Nachwirkungen der großen volkstümlichen Litteratur des 16. Jahrh. konnten freilich nicht mit einemmal verdrängt werden, und in einigen besondern poetischen Gattungen behauptete das wirkliche Leben noch eine Zeitlang sein Recht. Die evangelische geistliche Liederdichtung gedieh durch die tiefe Trostbedürftigkeit des in und nach dem Krieg duldenden Volkes zu einem neuen Aufschwung. Dichter wie J. Heermann, J. V. Andreä, Val. Herberger, Martin Rinckart, J. M. Dilher, Johann Frank ließ der größte geistliche Poet der Unheilszeit, der alle weltliche und geistliche Dichtung jener Tage an echter poetischer Kraft überragende Paul Gerhardt (1606–76; „Befiehl du deine Wege“), hinter sich. Im katholischen Deutschland vertraten der edle Jesuit Friedrich Spe mit seiner „Trutz-Nachtigall“ und der Konvertit Angelus Silesius (Scheffler, 1624–77) mit den Liedern „Heilige Seelenlust“ und den Sprüchen des „Cherubinischen Wandersmannes“ die religiöse Vertiefung, die seit der Gegenreformation auch auf dieser Seite eingetreten war. Den geistlichen Liederdichtern, die in
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 4. Bibliographisches Institut, Leipzig 1886, Seite 742. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b4_s0742.jpg&oldid=- (Version vom 7.3.2023)