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Seite:Meyers b4 s0764.jpg

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 4

bemühte er sich zugleich, „die unter der Hülle der Sagendichtung verborgene Wahrheit zu erkennen und ans Licht zu bringen, die ältesten Zustände in ihrer geschichtlichen Wirklichkeit wiederherzustellen, aus den brauchbaren Werkstücken ein neues historisches Gebäude aufzuführen“. Es gelang ihm dies in glänzender Weise, so daß sein Werk das Muster für alle fernern Versuche, die Geschichte des Altertums zu erforschen und darzustellen, wurde. Man begnügte sich bald nicht mehr mit der kritischen Untersuchung der Schriftsteller, sondern zog auch andre Quellen, Inschriften, Denkmäler u. a. hervor und verwertete die Ergebnisse der Sprachwissenschaft zur Aufhellung der Urgeschichte sowie die Politik und Nationalökonomie zur Erkenntnis der staatlichen und wirtschaftlichen Zustände. Nicht bloß die römische Geschichte, sondern auch die Griechenlands, namentlich aber die des Orients wurde auf diese Weise ganz umgestaltet, zumal da gleichzeitig großartige Entdeckungen an Bauwerken, Denkmälern und Inschriften gemacht wurden. Die zahlreichen Abhandlungen und Spezialgeschichten über die Geschichte des Altertums wurden in Dunckers „Geschichte des Altertums“, Curtius’ „Griechischer Geschichte“, Droysens „Geschichte des Hellenismus“ und Mommsens „Römischer Geschichte“ gewissermaßen zusammengefaßt.

Niebuhrs neue kritische Methode wurde bald auch auf die mittlere und neuere Geschichte übertragen. Hierzu trug wesentlich bei die Stiftung der „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde“ durch Stein, welche die Herausgabe des großen Quellenwerks Monumenta Germaniae historica (s. d.) durch Pertz veranlaßte. Dasselbe lieferte das Quellenmaterial für eine Geschichte des deutschen Mittelalters, nach den Grundsätzen der Niebuhrschen Methode bearbeitet, in unerschöpflicher Fülle und regte zu Neubearbeitungen der mittelalterlichen Geschichte an. Die strenge Kritik bei der Sammlung und Sichtung des Materials führte zu dem Streben nach objektiver Wahrheit in der Auffassung und Darstellung, welches besonders bei dem berühmtesten neuern Geschichtschreiber, Leop. Ranke (geb. 1795), und bei seiner Schule hervortritt. Ranke selbst hat eine Reihe von Geschichtswerken über die deutsche Reformation, die Päpste, Frankreich und England im 16. und 17. Jahrh. u. a. m. geschaffen, welche durch Beherrschung des kritisch gesichteten Materials, welthistorischen Blick, geistreiche Auffassung und künstlerisch vollendete Darstellung ausgezeichnet und wahre Kunstschöpfungen sind, bei denen aber völlige Objektivität des Standpunktes entweder nicht erreicht wird, oder sich in allzu großer Herzenskälte und Indifferenz äußert. Besser gelang die Bewahrung strenger Objektivität manchen Historikern der Rankeschen Schule in der Darstellung mittelalterlicher Personen und Begebenheiten, wie Stenzel, Waitz, Köpke, Jaffé, Winkelmann u. a. Aber auch in der Behandlung des Mittelalters machten sich in größern Werken Standpunkt und Temperament der Verfasser geltend: so ist Wilh. Giesebrechts (geb. 1814) großes Werk über die deutsche Kaiserzeit von patriotischem Geiste durchweht, während Heinr. Leo (gest. 1878) in seinen Geschichtswerken vom christlich-konservativen Standpunkt aus gegen Aufklärung und Revolution eifert und die Konvertiten Hurter (gest. 1865) und A. Fr. Gfrörer (gest. 1861) sowie Joh. Janssen (geb. 1829) offen die päpstliche Hierarchie verteidigen und ultramontane Grundsätze vertreten. Noch weniger war die Zurückdrängung der politischen und religiösen Anschauungen der Geschichtschreiber bei der Behandlung der neuern Geschichte möglich, da die Reformation, die Gegenreformation, der Dreißigjährige Krieg, das Emporkommen Preußens, endlich die Verfassungsgeschichte der modernen Staaten immer von Protestanten und Katholiken, Kleindeutschen und Großdeutschen, Liberalen und Konservativen verschieden beurteilt werden. Den gemäßigt liberalen Standpunkt vertreten besonders Dahlmann (1785–1860) und Gervinus (1805–71), mehr den nationalen Häusser (gest. 1867), v. Sybel (geb. 1817), Droysen (gest. 1884) und Treitschke (geb. 1835). Hervorragendes leistete die neuere Geschichtschreibung in der Bildung eines guten, teilweise glänzenden Stils und lebendiger, anschaulicher, charaktervoller Darstellung. Sie beschränkte sich nicht auf Deutschland, sondern bearbeitete auch die Geschichte andrer Staaten und strebte immer danach, das Einzelne im Zusammenhang der Weltgeschichte zu begreifen. Es gibt kaum einen Staat, dessen Geschichte nicht von einem Deutschen dargestellt worden wäre. Ferner waren die deutschen Geschichtschreiber auch bemüht, für die neuere Geschichte das vorhandene Material kritisch zu sichten und neues aus Bibliotheken und Archiven zusammenzutragen. Gefördert wurde dies Unternehmen namentlich durch die Errichtung der „Historischen Kommission“ bei der königlichen Akademie in München durch König Max II. (1858) und durch die Publikationen der preußischen Archivverwaltung, welche die Veröffentlichung größerer Aktensammlungen möglich machten. Hierdurch wurden nicht nur die Kenntnisse erweitert, sondern auch vielfach durch Vertiefung der Forschung die Wahrheit genau ermittelt und das Urteil geläutert. So entwickelte sich in Deutschland in Geschichtsforschung und Geschichtschreibung ein reges Leben und Arbeiten, durch die Seminare an den Hochschulen, ferner durch Historische Vereine (s. d.) in allen Landschaften begünstigt und sich über alle Zeiten und Länder erstreckend, in lebendigem Zusammenhang mit den Hilfswissenschaften sowie andern Wissenschaften. Der deutsche Bienenfleiß speicherte zahllose Schriften und Abhandlungen geschichtlichen Inhalts auf. Ihre Ergebnisse wurden dann von Zeit zu Zeit in Geschichtswerken, welche die Geschichte einer Zeit oder eines Volkes umfaßten, oder in Weltgeschichten (besonders der von Ranke und von Weber) zusammengefaßt. Auch die Biographie wurde mehr und mehr gepflegt, und einige vorzügliche Lebensgeschichten erschienen von Droysen („Leben des Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg“), Varnhagen v. Ense, Springer („Chr. Friedr. Dahlmann“), Freytag („Karl Mathy“), Arneth („Prinz Eugen von Savoyen“), Strauß („Ulrich von Hutten“) u. a. Am langsamsten entwickelte sich die Memoirenlitteratur (s. Memoiren), was allerdings auch mit den politischen Verhältnissen zusammenhing. Vgl. Wegele, Geschichte der deutschen Historiographie (Münch. 1885). – Über die übrigen historischen Disziplinen, wie Kulturgeschichte, Kunstgeschichte, Kirchengeschichte, Litteraturgeschichte[WS 1] etc., s. die betreffenden Artikel.

Übrige Wissenschaften.

Die Entwickelung der übrigen Wissenschaften historisch zu verfolgen, ist, wie schon erwähnt, hier nicht der Ort; es kann allenfalls nur eine Anzahl Autoren, besonders der neuesten Zeit, als Repräsentanten namhaft gemacht werden, deren Werke sich nicht nur durch Gediegenheit des Inhalts, sondern auch durch schöne Darstellung auszeichnen und daher teilweise Anspruch haben dürften, zum Bestand der Nationallitteratur hinzugezogen zu werden. In dieser Rücksicht sei zunächst an die staatsrechtlichen und politischen Schriften eines Bluntschli („Geschichte

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Siehe unter Litteratūr.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 4. Bibliographisches Institut, Leipzig 1886, Seite 764. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b4_s0764.jpg&oldid=- (Version vom 8.3.2023)
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