Zum Inhalt springen

Seite:Meyers b8 s0789.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 8

wo er, der königliche Kammerherr, in der Universität und in der Singakademie die vielberühmten, auch vom Hof besuchten Vorlesungen über physische Weltbeschreibung hielt. Aber schon 1829 unternahm er im Auftrag des Kaisers Nikolaus und in Begleitung von Ehrenberg und G. Rose eine reich ausgestattete Expedition nach dem Ural und Altai, der chinesischen Dsungarei und dem Kaspischen Meer. Nach der Thronbesteigung Ludwig Philipps ward H. beauftragt, demselben die Anerkennung von seiten des preußischen Throns zu überbringen und dann von Paris aus politische Berichte, zuerst vom September 1830 bis Mai 1832 und dann wieder 1834 und 1835, nach Berlin einzusenden. Die gleiche Mission wiederholte sich in den nächsten zwölf Jahren noch fünfmal und nahm allemal 4–5 Monate in Anspruch. In diese Zeit fallen die in Verbindung mit Gauß geschaffene Organisation der magnetischen Beobachtungsstationen, der Vorläufer unsrer meteorologischen Observatorien, welche damals nur durch Humboldts großes Ansehen im In- und Ausland ermöglicht wurde, und die Vollendung und Herausgabe eines gelehrten historischen Werkes, des „Examen critique“. Außer einem abermaligen Besuch in Paris 1847 machte H. seitdem nur noch zwei Reisen außerhalb Deutschlands mit König Friedrich Wilhelm IV., die eine 1841 nach England, die andre 1845 nach Dänemark. Sein ständiger Aufenthalt blieb Berlin, wo er mit noch jugendlich frischem Geist seinen Studien lebte, als deren Hauptfrucht der „Kosmos, Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“ (s. unten) zu betrachten ist. Die letzten Jahrzehnte lebte er ziemlich zurückgezogen. Er starb 6. Mai 1859 in Berlin im neunzigsten Jahr.

Schon die ersten Arbeiten, welche H. lieferte, geben Zeugnis von seiner großen wissenschaftlichen Befähigung. Eine Jugendschrift, mehr poetischen als wissenschaftlichen Inhalts, zeigt, wie auch ihn die dichterisch-symbolisch-spekulative Anschauung der Zeit gefesselt hielt; aber der Geist der Spezialforschung, welcher ihn beherrschte, bewahrte ihn vor dem Abgrund, in welchen später die sogen. Naturphilosophie versank. Wir sehen ihn beschäftigt mit gründlichen Experimenten, welche ihn notwendig auf die Bahn der exakten Wissenschaften leiten mußten. Auf so vielen und verschiedenen Gebieten führten ihn seine ersten Forschungen zu bedeutsamen Resultaten, daß die Annahme berechtigt erscheint, er würde auch im Bergwesen, als Chemiker, Physiker oder Physiolog Hervorragendes geleistet haben, wenn er sich einer dieser Wissenschaften ausschließlich gewidmet hätte. Aber so groß war sein Streben nach universalem, umfassendem Wissen, daß die einzelnen Disziplinen der Naturwissenschaft ihm nur als Vorstufen zur tiefern Erkenntnis der Physik des Erdballes galten. Sein Drang nach Erkenntnis des Ganzen führte ihn aus seiner Berufsthätigkeit fort und in die Tropen, wo er für seine Zwecke ein reicheres Material erwerben konnte. Humboldts große Reise ist das Vorbild für alle spätern wissenschaftlichen Reisen geworden; ihn selbst hob sie auf jene hohe Stufe, auf welcher er als der erste aller Naturforscher seiner Zeit einen so großen Einfluß ausgeübt hat. H. wurde der Begründer der klimatologischen und plastischen Geographie, der Physik des Meers und der Pflanzengeographie; er hatte die reihenweise Anordnung der Vulkane und die örtlich verschiedene Intensität der Magnetkraft erkannt; Geologie und Astronomie, Zoologie, Botanik und Mineralogie hatten durch ihn wie kaum durch einen andern Forscher vor ihm Bereicherung erfahren. Aber auch die Bewohner der durchreisten Länder hatten sein Interesse gefesselt, und er lieferte die bedeutsamsten Arbeiten über die Abstammung, die Sprachen, die Kulturzustände, die Wanderungen und die Zeitrechnung der alten Peruaner und Mexikaner. Für die Statistik, die damals kaum im Entstehen war, und für die Staatsökonomie wurden eine Untersuchungen von großer Wichtigkeit. Die staunenswerte Universalität seines Wissens wurde aber für ihn die Basis zu weitern Leistungen. Er war nicht ein Polyhistor, welcher sich nur an die Einzelheiten, an die nackten Thatsachen hält; ihm diente alles nur als Mittel seines großen Zweckes, die Erscheinungen der körperlichen Dinge in ihrem allgemeinen Zusammenhang, die Natur als ein durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganze aufzufassen. Das große Zeugnis dieser Anschauungsweise ist sein „Kosmos“, ein Werk, welches einzig dasteht in der Litteratur aller Völker. Es ist ein säkularer Abschluß des gesamten Naturwissens der Humboldtschen Zeit, ausgezeichnet durch eine vollendete Darstellung, durch die geistreiche Art und Weise der Benutzung und Verknüpfung eigner und fremder Beobachtungen, durch die Zuverlässigkeit der Angaben, vor allem durch die Fülle fruchtbarer Gedanken. Aber über diese Grenze hinaus hat die gesamte Arbeit Humboldts eine eminente Bedeutung durch die beständige Hervorhebung der Beziehungen zwischen der tiefern Einsicht in die Erscheinungen der Kräfte der Natur und der geistigen Bildung wie dem materiellen Wohlstand der Völker. Das Erheben des Menschen zu einer höhern, umfassendern, den Geist veredelnden Weltanschauung, die Erweckung eines geläuterten Naturgefühls hat er in allen seinen Schriften überall auch da betont, wo er von scheinbar ferner liegenden Gegenständen redet. Er verschmähte es nicht, in einer Zeit, wo die Gelehrten sich streng abschlossen, seine Forschungen durch allgemein verständliche Vorlesungen und Schriften zu einem Gemeingut aller zu machen, und wurde dadurch ein Mann des Volkes im höchsten Sinn und der Urheber einer populär-wissenschaftlichen Litteratur in klassischer Form. Seine wissenschaftliche Bedeutung und seine Stellung zum König verschafften H. einen weitreichenden Einfluß. Durch persönlichen Verkehr mit fast allen Gelehrten, durch eine großartige Korrespondenz, durch Förderung jüngerer Talente und besonders auch durch Bekämpfung oder doch Milderung von Einflüssen, welche den Staat seiner Mission der Förderung der Wissenschaft untreu zu machen trachteten, wirkte er fruchtbar in hohem Grad.

H. galt zuletzt als der Nestor der Naturforschung in Deutschland, ja in Europa, und mit Recht rühmte man ihn als den Mann, der sie stets mit Rat und That zu fördern bemüht war. Seine Autorität war so groß, daß sie sogar in mancher Beziehung die Entwickelung reformierender Ansichten auf verschiedenen Gebieten eine Zeit hindurch verhindert hat. Dies gilt besonders für die Geologie, welche sich bald in entschiedenem Gegensatz zu den im „Kosmos“ vorgetragenen Ideen entwickelte, wie denn dieses Werk heute hauptsächlich noch als Denkmal eines universalen Geistes Bedeutung hat, auf den einzelnen Gebieten aber fast nach jeder Richtung veraltet ist. Man hat auch daran erinnert, daß H. in jeder einzelnen Disziplin von Spezialforschern übertroffen worden ist, daß er als Entdecker nicht an Galvani, Kopernikus, Kepler oder Newton heranreicht; doch mit Unrecht, denn Humboldts Bedeutung liegt gerade darin, daß er nicht einer einzelnen Disziplin, nicht der Naturwissenschaft allein, sondern der gesamten Förderung der Menschheit diente. Bereits 1804 wurde ihm

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 8. Bibliographisches Institut, Leipzig 1887, Seite 789. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b8_s0789.jpg&oldid=- (Version vom 2.10.2022)
OSZAR »